Ausblick auf soziale, Wohn- & Versorgungssicherheit in Stadt und Land Salzburg, Wohnbedarfserhebung 10/2024

Torsten Bichler, Gustav Holzer, Peter Linhuber, Heinz Schoibl

Mai 2025

Zur besseren Lesbarkeit hier als PDF-Datei.

Inhalt

Einleitung und Vorstellung des Forum Wohnungslosenhilfe

Einführung in Methode sowie Tradition der Wohnbedarfserhebung

Wohnbedarf nimmt (wieder) zu!

Weibliche Wohnungsnot ist in vielen Fällen verdeckte Wohnungslosigkeit

Minderjährige in verdeckter Wohnungsnot

Regionaler Wohnbedarf bleibt zu hohen Anteilen im Dunkelfeld verdeckter Wohnungsnot

Wohnungsnot bei Migrant:innen verweist auf strukturelle Integrationshürden.

Erhöhter Pflegebedarf verweist auf Versagen vorgelagerter Sicherungssysteme.

Kategorien der Wohnungsnot

Arbeit schützt nur unzureichend vor Armut und Wohnungslosigkeit

Ursachen der Wohnungsnot

Gerichtliche Verfahren zur Beendigung von Wohnverhältnissen

Kritische Entwicklung von Wohnunsicherheit betrifft insbesondere die Stadt Salzburg

Politischer Kontext zur Beendigung von Obdach- und Wohnungslosigkeit

Soziale Sicherheit & Recht auf Schutz vor Armut, Ausgrenzung und Wohnungslosigkeit

Wohnsicherheit & Recht auf Wohnen

Versorgungssicherheit  & Recht auf subjektive Leistbarkeit

Einleitung und Vorstellung des Forum Wohnungslosenhilfe

Jahr für Jahr aktiviert das Forum Wohnungslosenhilfe Salzburg (im Weiteren: F-WLH) ein breites Netzwerk aus Sozial- und Gesundheitseinrichtungen, dokumentiert jene Wohnungsnotfälle, die im Verlauf des Monats Oktober von den Einrichtungen dokumentiert werden, und stellt den politisch-administrativ Verantwortlichen in Stadt und Land Salzburg geballtes Wissen über existentielle Krisen, Bedarf nach Hilfen und Interventionen sowie Handlungsansätze für die Bewältigung und/oder Beendigung von Wohnungsnot bereit. Das Forum Wohnungslosenhilfe ist ein informelles Netzwerk aus Mitarbeiter*innen des Sozial- und Gesundheitssektors, das seit nunmehr 30 Jahren die Entwicklungen im Kontext von Armut, Ausgrenzung und Wohnungslosigkeit beobachtet, Trends analysiert und faktenbasierte Empfehlungen für die Prävention sowie Bewältigung von Wohnungsnot bereitstellt, die Diskussion mit den politisch-administrativ Verantwortlichen sucht und an der Entwicklung von Lösungsansätzen mitarbeitet. Interessierten steht ein Online-Newsletter zur Verfügung, der unter www.forumwlh.at abonniert werden kann.

Auch im Oktober 2024 war es wieder so weit. Die Ergebnisse der Wohnbedarfserhebung liegen vor (siehe unter: http://forumwlh.at/downloads/) und machen deutlich, dass die sozial- und wohnpolitischen Maßnahmen der letzten Jahre nicht ausgereicht haben, um die vollmundigen Versprechen einer „Halbierung der Armutsgefährdung“ etc. einzulösen.

Einführung in Methode sowie Tradition der Wohnbedarfserhebung

Die Wohnbedarfserhebung des F-WLH bedient sich eines Fragebogens, der ca. Anfang September an alle bekannten Sozial- und Gesundheitseinrichtungen, Beratungsstellen und Betreuungsangebote versandt wird. Die Adressat*innen aus Stadt und Land Salzburg werden im Begleitschreiben gebeten, anonymisierte Angaben zu jenen Personen zu dokumentieren, die sich im Verlauf des Monats Oktober an ihre Einrichtung mit der Bitte wenden, ihnen bei der Bewältigung ihrer Wohnungsnot Unterstützung zu gewähren.

Der Fragebogen orientiert sich an der international abgestimmten Definition von Wohnungslosigkeit, berücksichtigt dabei nicht nur Obdachlosigkeit – die auffälligste und extremste Form von Armut und Wohnungsnot – sondern geht im Detail auch auf Fragen einer prekären, unsicheren sowie ungenügenden Wohnversorgung ein. Ergänzende Fragen zu Ursachen der Wohnungsnot, zur Einkommenssituation sowie zu angrenzenden Bedarfsaspekten, z.B. Pflegebedarf, runden den Fragenkatalog ab.

Ab Anfang November werden die eingegangenen Daten EDV-gestützt verarbeitet und ausgewertet. Anfang des Folgejahres folgt dann die Erarbeitung der quantitativen Analyse und Auswertung.

Wohnbedarf nimmt (wieder) zu!

Während der vergangenen 30 Jahre ist eine stete Zunahme von dokumentierter extremer Armut, Ausgrenzung und Wohnungslosigkeit zu beobachten. In den Jahren der Pandemie kam es, u.a. aufgrund von Kontaktbeschränkungen etc., zu einem deutlichen Rückgang der aufgezeichneten Wohnungsnotfälle. Inzwischen aber zeigt sich, dass der Anfall von extremen Formen der Armut, Ausgrenzung und Wohnungslosigkeit wieder gestiegen ist und inzwischen beinahe das Vor-Pandemie-Niveau erreicht hat.

Aktuell sieht es so aus:

 20232024Veränderung in %
Erwachsene Personen   1.042   1.231                   +18 %
davon Männer   712 (68 %) 823 (67 %)                  +16 %
davon Frauen 330 (32 %) 408 (33 %)                   +24 %
Minderjährige       252       282  +12 %
gesamt    1.294    1.513 +17 %


Durchgängig zeigt sich ein Anstieg, insbesondere betroffen davon sind Frauen mit einem Plus von 24 %. Allerdings ist diesbezüglich zu betonen, dass der relativ niedrige Anteil der dokumentierten weiblichen Wohnungsnot von 33 % ein Alarmzeichen darstellt. Trotz intensiver Vernetzung von Sozial- und Gesundheitseinrichtungen etc. muss festgehalten werden, dass die quantitative Erhebung von Armut, Ausgrenzung und Wohnungslosigkeit nur teilweise gelingt, dass also weiterhin ein großes Dunkelfeld bestehen bleibt.

Weibliche Wohnungsnot ist in vielen Fällen verdeckte Wohnungslosigkeit.

Frauen tendieren dazu, ihre Wohnungsnot aus Scham zu verbergen bzw. versuchen, diese durch fragwürdige Strategien, z.B. im Rahmen von Unterdrückung, Ausbeutung oder sonst belastender Beziehungen, zu bewältigen. Weibliche Wohnungsnot wird somit mehr oder minder konsequent der Sichtbarkeit und/oder dem Zugriff durch die öffentliche Hand entzogen.

Minderjährige in verdeckter Wohnungsnot

Erschreckend ist auch die hohe Anzahl von Minderjährigen, die überwiegend als Mitziehende von der Wohnungsnot der Erziehungsberechtigten mitbetroffen sind und nur zu einem relativ kleinen Anteil als Alleinstehende den Kontakt mit dem formellen Hilfesystem, z.B. Streetwork oder Jugendnotschlafstelle, suchen. Allerdings hat der aktuelle Anstieg noch nicht gereicht, um das vorpandemische
Niveau von 354 minderjährigen Wohnungslosen zu erreichen.


Auch in Hinblick auf Minderjährige in Wohnungsnot ist mit einer Dunkelziffer
zu rechnen, die im Rahmen der jährlichen Wohnbedarfserhebung des F-WLH
nicht annähernd ausgelotet werden kann.

Regionaler Wohnbedarf bleibt zu hohen Anteilen im Dunkelfeld verdeckter Wohnungsnot

Die Wohnbedarfsfälle wurden überwiegend aus dem Ballungsraum Salzburg-Stadt gemeldet (85,5 %). Auf die umliegenden Gemeinden im Flachgau entfallen 4 %. Die weiteren Gaue liegen anteilsmäßig darunter: Pinzgau = 4 %; Tennengau = 3 % und Pongau = 1 %. Für den Lungau werden lediglich einige wenige Einzelmeldungen gemeldet.


Dunkelfeld → ländliche Armut, Ausgrenzung und Wohnungslosigkeit!

Die regionale Verteilung der dokumentierten Bedarfsfälle weist auf eine große Dunkelziffer insbesondere in den ländlichen Regionen hin. Offensichtlich kommt hier der Schamfaktor wirksamer zum Tragen als im urbanen Kontext, womit die Sichtbarkeit von Wohnungsnot entsprechend eingeschränkt ausfällt.

Wohnungsnot bei Migrant*innen verweist auf strukturelle Integrationshürden

Die Österreicher*innen stellen mit insgesamt 584 Personen (das entspricht einem Anteil von 34 %) die Mehrheit der dokumentierten Wohnbedarfsfälle; sie sind damit in Relation zu anderen Statusgruppen jedoch deutlich unterrepräsentiert. Überrepräsentiert sind demgegenüber EU-Bürger*innen (28 %), Drittstaatenangehörige (14 %), Konventionsflüchtlinge (13 %) und subsidiär Schutzberechtigte (3,5 %).


Österreicher*innen sind gegenüber EU- und Drittstaatsangehörigen
deutlich unterrepräsentiert. Migration stellt mithin einen wesentlichen
Auslöser für Armut, Ausgrenzung und Wohnungslosigkeit dar.

Asylwerber*innen (insgesamt 20, Anteil von 1 %), Vertriebene (insgesamt 8, Anteil von 0,5 %) sowie Personen ohne regulären Aufenthaltstitel (insgesamt 7, Anteil von 0,5 %) stellen kleine Restgrößen dar, die offensichtlich kaum Zugang zur WLH finden.


Die Gruppe der Notreisenden ist von 120 im Jahr 2023
auf nunmehr 277 Personen im Oktober 2024 angestiegen.


Der hohe Anteil der EU-Bürger*innen ist wesentlich darauf zurückzuführen, dass sich im Herbst 2024 die ehrenamtliche Streetwork der Diözese an der Erhebung beteiligt und viele Notreisende im Rahmen ihrer Straßenkontakte dokumentiert hat, die sonst nur unregelmäßig Kontakt zu den Hilfeeinrichtungen pflegen. Damit ist es zu einer dichteren Erfassung dieses Personenkreises gekommen und ein großer Bedarf an entsprechenden Überlebens-Hilfen sichtbar geworden.

Erhöhter Pflegebedarf verweist auf Versagen vorgelagerter Sicherungssysteme

Bei insgesamt 62 Personen (4 %) konnte von den beteiligten Sozialarbeiter*innen ein erheblicher Pflegebedarf festgestellt werden. Diese Feststellung beruht in den meisten Fällen auf einer Sozialdiagnose, zumal ja in der jährlichen Wohnbedarfsfesterhebung keine systematische Beteiligung von Ärzt*innen oder psychiatrischem Personal vorgesehen ist. Bei 48 Personen gehen die Sozialarbeiter*innen davon aus, dass der Pflegebedarf ambulant gedeckt werden kann, bei einer Person wird die Notwendigkeit einer 24-Stunden-Pflege hervorgehoben, bei weiteren 13 Personen wird eine stationäre Pflege angeregt. Nur bei 17 Personen (27 %) wird der pflegerische Bedarf als gedeckt wahrgenommen.


Pflegebedarf unter den Vorzeichen von Wohnungsnot ist
für alle Beteiligten ein absolutes No-Go!

Kategorien der Wohnungsnot

Analog zur international akkordierten Definition von Wohnungslosigkeit durch den Europäischen Dachverband der Wohnungslosenhilfe (siehe dazu ETHOS sowie ETHOS LIGHT, Download unter: www.FEANTSA.org) wird in der Wohnbedarfserhebung durch das F-WLH zwischen vier Kategorien von Wohnungsnot unterschieden. Es handelt sich dabei um a) Obdachlosigkeit (Nächtigung auf der Straße oder temporäre Unterkunft in einer Notschlafstelle), b) Wohnungslosigkeit (betreute Unterkunft in einer Sozial- oder WLH-Einrichtung), c) ungesicherte Wohnversorgung sowie d) inadäquate Wohnverhältnisse (Überbelag, Substandard etc.).

Im Detail zeigt sich, dass die Zunahme der Wohnungsnotfälle sehr ungleichmäßig auf die unterschiedlichen Kategorien verteilt ist. So steigt zum einen die Inzidenz von Obdachlosigkeit sehr stark an (+65 %), während zum anderen nicht adäquate Wohnverhältnisse (mit einem Plus von 17 %) sowie unsichere Wohnversorgung (mit einem Plus von 11 %) deutlich abgeschwächt zunehmen. Demgegenüber weist die Kategorie „Wohnungslosigkeit“ sogar einen Rückgang (Minus 13 %) auf. Es handelt sich dabei um betreute Wohnplätze in Frauenhäusern sowie teilstationären Einrichtungen der WLH, der Flüchtlingsbetreuung etc. Ein Rückgang von dokumentierten Personen im Versorgungssegment der temporär betreuten Unterkünfte legt als mögliche Erklärung nahe, dass es entweder zu einem Rückgang des Betreuungsangebots oder zu einer Verlängerung des Aufenthalts auf den Betreuungsplätzen und damit zu einem Rückgang der Frequenz in diesen Einrichtungen gekommen ist.

     Kategorie2023Anteil in %2024Anteil in %2023 – 2024
Obdachlos25316,7 %41726,4 %+64,8 %
wohnungslos30022,2 %26216,6 %-12,7 %
Ungesichert64948,0 %71845,5 %+10,6 %
Ungenügend15111,2 %17611,2 %+16,6 %

gesamt[1]

1353100 %1573100 %+16,3 %

Arbeit schützt nur unzureichend vor Armut und Wohnungslosigkeit.

Der Blick auf die dokumentierten Bedarfsfälle macht deutlich, dass annähernd jede dritte Person (30,5 %) ihren Lebensunterhalt durch ein Erwerbseinkommen bestreitet. Von Bedeutung erscheint weiters, dass zudem jede vierte Person (27 %) eine AMS-Leistung und weitere 13 % ein regelmäßiges Pensionseinkommen beziehen. Der überwiegende Teil der dokumentierten Wohnungsnotfälle     (70,5 %) steht mithin in Bezug eines regelmäßigen Einkommens, das jedoch offensichtlich nicht ausreicht, um Wohnungsnot effektiv zu bewältigen.

Erwerbseinkommen sowie davon abgeleitete Leistungen aus
Arbeitslosenversicherung bzw. Pensionsversicherung stellen keinen
adäquaten Schutz vor Armut, Ausgrenzung und Wohnungslosigkeit dar.

Das unterste soziale Netz der Sozialhilfe ist demgegenüber nur für einen kleinen Teil der erfassten Personen in Wohnungsnot (15 %) zugänglich. Nur jede siebte Person in Wohnungsnot bezieht eine Sozialhilfeleistung, weitere 12 % der Menschen in Wohnungsnot haben gar kein reguläres Einkommen und sind mithin auf Spenden, Betteln oder prekäre Selbstständigkeit (Verkauf von Straßenzeitungen, Sammeln von Pfandflaschen, Arbeitsstrich etc.) angewiesen.

Ursachen der Wohnungsnot

Wohnungslosigkeit entsteht in der Regel aus dem Zusammenwirken von strukturellen sowie individuellen Ursachen, die nur zu oft in unheilvoller Kombination zueinander stehen. Häufig wird in den Fragebögen auf Migrationshintergrund und entsprechende Integrationshürden verwiesen. Vielfach werden Einkommenseinbußen infolge von Arbeitslosigkeit und/oder Krankheit als Ursachen genannt. Erst in Kombination von Armut und Benachteiligung einerseits sowie fehlendem Zugang zu leistbarer und dauerhafter Wohnversorgung andererseits entsteht Wohnungslosigkeit, die sich mit zunehmender Dauer verfestigt und chronifiziert.

Gerichtliche Verfahren zur Beendigung von Wohnverhältnissen

Gerichtliche Verfahren zur Auflösung von Wohnverhältnissen sowie zur Zwangsräumung von Wohnungen stellen ein bedeutsames Tor in die Wohnungslosigkeit dar. Tatsächlich gibt es jedoch lediglich einen groben, wenn auch in räumlicher Hinsicht gut aufgegliederten Überblick über die Anzahl der laufenden bzw. abgeschlossenen Verfahren, der jedoch keine Auskunft darüber gibt, wie viele Personen davon betroffen waren und/oder welche Maßnahmen diese jeweils ergriffen haben, um mit den damit verbundenen existentiellen Krisen umzugehen.

Kritische Entwicklung von Wohnunsicherheit betrifft insbesondere die Stadt Salzburg

Eine Analyse der Verlaufsdaten in Stadt und Land Salzburg weist im mehrjährigen Überblick auf eine krisenhafte Entwicklung hin, die wohl wesentlich der aktuellen Teuerung im Bereich der Wohn- und Lebenskosten geschuldet ist. Insbesondere ist der Bereich der Stadt Salzburg von einer krassen Zunahme von gerichtlichen Kündigungsverfahren, Räumungsexekutionsklagen sowie Zwangsdelogierungen betroffen. Trotz fachlicher Hilfen zur Delogierungsprävention ist kein systematischer Schutz vor Wohnungslosigkeit gewährleistet.

Bundesland Salzburg202020212022202320242020 bis 2024
in Prozent
Räumung und Kündigung1.0041.1181.1681.2041.193+ 19 %
Antrag auf Räumungsexekution353410420492445+ 26 %
Zwangsräumung / Delogierung129127140146153+ 19 %
Salzburg-Stadt
Räumung und Kündigung618675687734706+ 14 %
Antrag auf Räumungsexekution173239221265248+ 43 %
Zwangsräumung / Delogierung6273798286+ 39 %

Politischer Kontext zur Beendigung von Obdach- und Wohnungslosigkeit

Im Angesicht des neuerlichen Anstiegs der Wohnungsnotfälle im Bundesland Salzburg weisen wir mit Nachdruck darauf hin, dass grundlegende Nachbesserungen auf unterschiedlichen Strategieebenen realisiert werden müssen, um einer weiteren Zunahme des Wohnbedarfs vorzubeugen bzw. den betroffenen Haushalten Wege aus der Wohnversorgungskrise zu eröffnen. Das betrifft – wie bereits im letztjährigen Bericht hervorgehoben – insbesondere Fragen der sozialen, Wohn- und Versorgungssicherheit. Damit allfällige Nachbesserungen wirken können, braucht es jedenfalls einen ganzheitlichen Ansatz, der bereichsübergreifend ansetzt, systemisch abgestimmt und bereichsübergreifend verschränkt wird. In diesem Sinne wird es nötig sein, sozial- und wohnpolitische Maßnahmen so zu gestalten, dass diese sich in ihrer Wirkung verstärken können und auch dann greifen, wenn kombinierte Bedarfssituationen bewältigt werden müssen. Im Einzelnen müssen folgende Maßnahmen prioritär gesetzt und realisiert werden:

Soziale Sicherheit & Recht auf Schutz vor Armut, Ausgrenzung und Wohnungslosigkeit

Soziale Grundrechte: Leider hat Österreich keine eigenständigen sozialen Grundrechte in der Verfassung verankert. Das in der Europäischen Sozialcharta vorgeschlagene Recht auf Schutz vor Armut, Ausgrenzung und Wohnungslosigkeit wurde im Rahmen der Ratifizierung im Jahr 2011 leider dezidiert ausgeklammert. Nach Auskunft der Legist*innen des Landes Salzburg fällt dies jedoch unter Bundeskompetenz. Stadt und Land Salzburg können das Fehlen einer verfassungsrechtlichen Verankerung dieser Schutzbestimmung nicht durch Maßnahmen im eigenen Kompetenzbereich aufheben. Zu empfehlen wäre jedoch eine entsprechende Selbstverpflichtung von Stadt und Land Salzburg, bedarfsorientierte Vorsorgen zu treffen, um dem Schutz der Salzburger*innen vor Armut und Wohnungslosigkeit nachkommen zu können.

Die sozialen Netze zum Schutz vor Armut sind sehr niedrig bemessen. Die Richtsätze für Mindestpension und Sozialhilfe liegen deutlich unter dem Niveau der Armutsgefährdungsschwelle. Schutz vor Armut und Hilfe bei der Armutsbewältigung sind nicht möglich. Damit diese sozialen Netze tatsächlich armutsfit werden, erscheint eine grundsätzliche Neuorganisation im Sinne einer Anhebung der Richtsätze sowie einer Öffnung der Zugangsvoraussetzungen dringend geboten.

Die Hilfen aus Arbeitslosengeld und Notstandshilfe kennen keinen festgelegten Mindeststandard und sind tatsächlich nicht armutsfit. Im Durchschnitt erhielten die Bezieher*innen im Jahr 2023 eine Förderung, die weit unter dem Niveau der Armutsgefährdungsschwelle lag. Um auf Perspektive Armut, Ausgrenzung und Wohnungslosigkeit bewältigen und beenden zu können, erscheint eine grundsätzliche Reform des AlVG dringend geboten.

Wohnsicherheit & Recht auf Wohnen

Auch für das Recht auf Wohnen gilt die Einschränkung, dass eine verfassungsmäßige Verankerung eines Rechts auf Wohnen der Bundeskompetenz unterliegt und weder von Stadt noch Land Salzburg ersatzweise geregelt werden kann. Aber es bleibt letztlich der Weg einer Selbstverpflichtung, z.B. im Rahmen einer formellen Anerkennung der international aufgelegten „homeless bill of rights“, und der Gewährleistung von sozial- und wohnpolitischen Vorsorgen für eine konsequente Prävention von Wohnungslosigkeit sowie Beendigung von Obdachlosigkeit.

Prävention von Wohnungslosigkeit: Aktuell werden im Rahmen einer Komm-Struktur Angebote zur Beratung und Unterstützung in laufenden Delogierungsverfahren realisiert. Diese sind davon abhängig, dass die betroffenen Haushalte sich a) rechtzeitig in der Fachstelle für Gefährdetenhilfe einfinden und b) die entsprechenden Voraussetzungen (Einkommensnachweise, Leistbarkeit der Wohnung, aktive Mitwirkung etc.) erfüllen. In vielen Fällen kann in diesem Rahmen die Wohnversorgung gesichert oder eine alternative adäquate Unterkunft realisiert werden. Wie die Daten zu den Zwangsräumungen belegen, ist dieser Weg in die Wohnungslosigkeit jedoch nach wie vor weit offen.

Leistbarer Wohnraum: Neben der Bereitstellung einer ausreichenden Anzahl von leistbaren Wohnungen wird es in Zukunft des systematischen Abbaus von Zugangshürden zu leistbarer, dauerhafter und integrativer Wohnversorgung bedürfen, um Obdachlosigkeit beenden und Wohnungsnot bewältigen zu können. Diese Aufgabe kann durch Neubau geförderter Wohnungen nicht bewältigt werden. Darüber hinaus wird es auch nötig sein, den privaten Wohnungsmarkt in die Pflicht zu nehmen, missbräuchlichen Leerstand zu aktivieren sowie Fehlnutzung von privatem Wohneigentum für touristische Zwecke zu verhindern. Adäquate Vorsorgen und Beihilfen müssen so ausgebaut und aufgestockt werden, dass damit die Wohn- und Betriebskosten gedeckt werden können und dass diese tatsächlich für die Betroffenen zugänglich sind.

Objektive Leistbarkeit: Um Obdach- und Wohnungslosigkeit beenden zu können, müssen leistbare Wohnungen tatsächlich verfügbar und potentiell zugänglich, sprich: objektiv leistbar, sein.

Subjektive Leistbarkeit: Für Menschen in Wohnungsnot gilt es zudem, die individuellen Ursachen der Wohnungsnot zu berücksichtigen und durch individuelle und bedarfsorientierte Hilfen sicherzustellen, dass sie in der Lage sind, adäquate Wohnungen zu beziehen, und dass Rehabitation funktioniert. Die Förderung von subjektiver Leistbarkeit von Wohnungen wird aktuell mit dem Modell „housing first“ exemplarisch umgesetzt, im Rahmen eines bundesweiten Projektes durch das Sozialministerium finanziell unterstützt und muss dringend im Kontext der kommunalen sowie regionalen WLH in Salzburg ausgebaut werden.

Versorgungssicherheit & Recht auf subjektive Leistbarkeit

Die leicht rückläufigen Zahlen der WBEH 2023 in Salzburg überdeckten dahinterliegende bereits bekannte, aber auch neuere Phänomene, welche in den steigenden Zahlen der aktuellen Erhebung 2024 nun deutlicher sichtbar werden. Diese sollen an dieser Stelle diskutiert werden, keinesfalls aber die vergangenen positiven Entwicklungen schmälern.

Einige Maßnahmen der öffentlichen Hand (bspw. das Projekt Wohnschirm, einmalige teuerungsbedingte Zuschüsse, usw.) haben inhaltlich wie auch statistisch höheren Zahlen entgegengewirkt. Allerdings überlagerten die jeweiligen Unterstützungsleistungen die zugrundeliegenden strukturellen Ursachen von Wohnungsnot: zu hohe Wohnkosten, zu geringes Einkommen von betroffenen Personen oder schlichtweg das Fehlen von geeignetem leistbaren Wohnraum. Zwei Effekte werden bei genauer Betrachtung dadurch deutlich sichtbar:

Rückfall aufgrund temporärer aber nicht struktureller Maßnahmen: Das Auslaufen bzw. die Reduktion der genannten Programme ohne entsprechende Anpassungen im Regelsystem der sozialen Sicherungssysteme hat den kurzfristig positiven Effekt gestoppt und es steht zu befürchten, dass die Entwicklung sich umgekehrt hat. Die Differenz zwischen Einkommen und Wohnkosten ist wieder angestiegen. Und eine Folge davon ist der augenscheinliche, neuerliche Anstieg der Wohnungsnot und damit ein Zurück in die Vergangenheit. Keine Maßnahme des Bundes – selbst der Mietpreisdeckel – hat diese Lücke für bzw. in Salzburg nachhaltig schließen können.

Daher sollte der Fokus verstärkt auf lange geforderte strukturelle Maßnahmen im Bereich der existenzsichernden Sozialleistungen wie Mindestsicherung oder Wohnbeihilfen gelegt werden.

Vorgelagerte dysfunktionale Systeme: Ein weiteres Phänomen, das sich in den letzten Jahren angebahnt und mittlerweile ein deutlich sichtbares Ausmaß in der Wohnungslosenhilfe angenommen hat, ist das Versagen von vorgelagerten Sicherungssystemen. Wohnungsnot hatte seit jeher überwiegend mit strukturellen Ursachen zu tun, die in vielen unterschiedlichen Handlungsfeldern verortet waren bzw. sind: Mietpreissteigerung aufgrund wirtschaftlicher Interessen, Zugangshürden aufgrund politischer Überlegungen und Fehlplanungen der Bauwirtschaft haben dazu geführt, dass für spezifische Zielgruppen zu wenig geeigneter Wohnraum zur Verfügung gestellt werden konnte.

In den vergangenen Jahren konnten noch weitere Problemlagen im Rahmen der Wohnbedarfserhebung beobachtet werden. Die Zahl von wohnungs- oder obdachlosen Menschen mit nicht-Österreichischer Staatsbürgerschaft hat ebenso zugenommen wie die Anzahl von wohnungs- und obdachlosen Minderjährigen. Zudem kann eine deutliche Zunahme von gesundheitlichen Themen wie vermehrte Pflegebedarfe oder psychische Erkrankungen festgestellt werden. Die akute Problembehandlung im Rahmen der Wohnungslosenhilfe fordert Einrichtungen und Kolleg*innen in einem deutlichen intensiveren Ausmaß als noch vor ein bis zwei Jahrzehnten.

Bei Betrachtung der Ursachen für die genannten Entwicklungen muss mit Nachdruck resümiert werden, dass die Wohnungslosenhilfe nicht der geeignete Ort für eine nachhaltige Problemlösung sein kann. Kinder und Jugendliche werden nicht in Wohnungsnot geraten, wenn präventive Maßnahmen im Bereich der Bildung und der Teilhabe umgesetzt würden. Eine aktive existenzsichernde Migrationspolitik wird die Selbsterhaltungsfähigkeit von zugewanderten Menschen erleichtern und eine vorausschauende bzw. bedarfsdeckende Gesundheitspolitik – insbesondere den Pflegebereich und psychische Erkrankungen betreffend – wird verhindern, dass diese Zielgruppen in Wohnungsnot geraten.

Die Wohnungslosenhilfe kann im Zusammenwirken zwar Expertin und Unterstützerin für etwaige präventive Lösungen sein, das Scheitern anderer Systeme allerdings wird sie weder stellvertretend abfangen noch praktisch nachhaltig lösen können.


[1]     In dieser Tabelle werden auch mehrfach gemeldete Wohnbedarfsfälle gerechnet, also auch jene Personen, die im Verlauf des Stichzeitraums von einem Monat z.B. sowohl obdachlos als auch ungesichert wohnversorgt waren. Doppelnennungen dieser Art umfassen insgesamt 59 Personen.

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