Beitrag von Norbert Krammer
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Das Reformprojekt Erwachsenenschutzgesetz (ErwSchG) startete bereits vor rund zehn Jahren, nachdem jahrelang Kritik an dem alten Sachwalterrecht formuliert wurde und trotzdem nur kleine Verbesserungen erreicht werden konnten. Nachdem Österreich seinen Verpflichtungen aus der 2008 ratifizierten UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) nur ungenügend nachkam, stellten sich die 2013 erfolgte Staatenprüfung des UN-Fachausschusses, dem Prüforgan der UN-BRK, und der kritische Bericht über das Sachwalterrecht als Turbo für die schon lange notwendige, umfassende Reform heraus. Im Justizministerium begann eine engagierte Vorbereitungsphase mit vielen partizipativen Elementen an deren Ende ein sehr ambitionierter Entwurf für das neue Erwachsenenschutzrecht vorgestellt wurde. Finanzierungsunstimmigkeiten verzögerten die Beschlussfassung des Parlaments, aber schlussendlich konnte das 2. ErwSchG mit 1. Juli 2018 in Kraft treten.
Wichtige Reformelemente umgesetzt
Im Zentrum des ErwSchG steht – ganz im Sinn der UN-BRK – die Erhaltung von Selbstbestimmung für Menschen mit Beeinträchtigungen. Dazu waren wichtige Änderungen im ABGB und damit in der österreichischen Rechtsordnung notwendig. Die Handlungsfähigkeit für alle Menschen wurde neu abgesichert, so wie dies die Konvention vorsieht. War im abgelösten Sachwalterrecht noch die Einschränkung der Geschäftsfähigkeit die Regel, wird dieser Automatismus nun unterbunden. Im Fokus steht die Frage, ob eine Person in der konkreten Angelegenheit und zum aktuellen Zeitpunkt die Entscheidungsfähigkeit besitzt. Also ein sehr individueller und dynamischer Zugang. In der Konsequenz bedeutet dies auch, dass trotz Vertretung die Selbstbestimmung erhalten bleibt. Im Einzelfall ist zu prüfen, ob Menschen mit einer psychischen Erkrankung oder einer vergleichbaren Beeinträchtigung – so die neue Terminologie für den vertretenen Personenkreis – entscheidungsfähig im Hinblick auf das konkrete Rechtsgeschäft sind.
Vorbei sind die in der Gesellschaft lange eingeübten und wohlbekannten Mechanismen der Entmündigung, der Vertretung und Entscheidung ohne Einbeziehung der betroffenen Menschen und die Beschneidung der Selbstbestimmung. Oder besser gesagt: Das ErwSchG bereitet den rechtlichen Rahmen für diese menschenrechtlich notwendige Entwicklung auf. Noch ist das Ziel nicht erreicht, aber es konnten schon viele – kleine und mittelgroße – Veränderungsschritte realisiert werden.
Erwachsenvertretung löst Sachwalterschaft ab
Mit dem ErwSchG wurden die Vertretungsmöglichkeiten weiter differenziert und den aktuellen Erfordernissen angepasst.
Der selbstgewählten Vertretung für den Fall, dass die Entscheidungsfähigkeit später – beispielsweise durch Unfall oder eine Erkrankung – eingeschränkt wird, ist absoluter Vorrang einzuräumen. Die Vorsorgevollmacht ist ein bekanntes, nun im Rechtsschutz verbessertes Instrument der Vertretung, die vorab selbst bestimmt werden kann.
Liegt die Vollmachtsfähigkeit nicht mehr vor, ist aber eine Auswahlfähigkeit der Vertreterin/des Vertreters noch erhalten und können die Wesenszüge einer gewählten Erwachsenenvertretung verstanden werden, kann diese neue Vertretungsform errichtet und im Vertretungsverzeichnis registriert werden.
Die gesetzliche Erwachsenenvertretung kommt dann in Betracht, wenn keine Vorsorgevollmacht errichtet wurde und das Wählen einer Vertreterin/eines Vertreters entweder nicht mehr möglich oder nicht umsetzbar ist. Dann kann die Vertretung durch nahe Angehörige in genau definierten Angelegenheiten auf drei Jahre befristet registriert werden.
Ist dies auch nicht möglich und eine Vertretung unvermeidlich, dann kommt die gerichtliche Erwachsenenvertretung ins Spiel, die das alte Sachwaltersystem abgelöst hat. Auch hier gibt es deutlich mehr Anforderungen, um Selbstbestimmung zu erweitern und umzusetzen. Beispielsweise durch die Befristung auf drei Jahre, die damit verbundene regelmäßige Abklärung der Voraussetzung und Prüfung von Alternativen in einem Clearingprozess, die Erhaltung der Handlungsfähigkeit bei Vorliegen von Entscheidungsfähigkeit, die Verpflichtung zur Information und Bindung an die Wunschumsetzung.
Mit Jahresmitte 2018 wurden alle früher bestehenden Sachwalterschaften übergleitet und bestehen vorläufig als gerichtliche Erwachsenenvertretung weiter. Bis spätestens Ende 2023 müssen diese Vertretungen verpflichtend durch eine Abklärung der Voraussetzungen und möglicher Alternativen überprüft werden. Mit dieser Aufgabe wird ein Erwachsenenschutzverein beauftragt. Bestehen keine Alternativen und bleibt die Vertretung unvermeidbar, kann das Gericht für weitere drei Jahre eine gerichtliche Erwachsenenvertretung beschließen.
Ein paar aktuelle Zahlen zur Entwicklung
Ein Reformziel, die Reduktion der lange Zeit steigenden Sachwalterschaft-Zahlen, wurde bereits erreicht. Vor Beschlussfassung des ErwSchG gab es österreichweit rund 55.000 Sachwalterschaften, dies sich schon bis zum Inkrafttreten mit 1.7.2018 reduzierten, da offensichtlich nicht unbedingt erforderliche Verfahren hinausgeschoben wurden. Dieser Trend setzte sich durch die verpflichtende Abklärung der Erwachsenenschutzvereine bei jeder Anregung, die Registrierung von alternativen Erwachsenenvertretungen und auch die Vermittlung alternativer Unterstützungen in den ersten beiden Jahren fort.
Das lässt sich auch in Salzburg beobachten, wie ein vertiefender Blick auf die Entwicklung am Bezirksgericht Salzburg als Beispiel mit aktuellen Daten 2020 belegt: Hier weist die Justizstatistik zum Start des ErwSchG noch 907 Sachwalterschaften aus, die sich bis 30. Juni 2020 auf 687 gerichtliche Erwachsenenvertretungen reduzierten. Nur im Ausnahmefall kann bei einer Erwachsenenvertretung durch einen sogenannten Genehmigungsvorbehalt die Handlungsfähigkeit dadurch eingeschränkt werden, dass die Wirksamkeit bestimmter rechtsgeschäftlicher Handlungen von der Zustimmung der Erwachsenenvertreterin/des Erwachsenenvertreters abhängt. Die Hürde für einen Genehmigungsvorbehalt ist hoch, denn es muss eine ernstliche und erhebliche Gefährdung für die vertretene Person vorliegen. Die Gerichte setzen dies auch vorbildlich um und haben bisher österreichweit nur bei knapp 7 % der gerichtlichen Erwachsenenvertretungen einen Vorbehalt angeordnet. Am BG Salzburg ist dies mit 4,8 % noch niedriger und bestätigt die Reformidee, dass eine Einschränkung meist überschießend und nicht erforderlich ist. Mehr Selbstbestimmung und weniger Einschränkung ist das gewünschte Ergebnis.
Jede Anregung der Bestellung einer gerichtlichen Erwachsenenvertretung löst einen Auftrag des Gerichts an den Erwachsenenschutzverein aus, mögliche Alternativen – beispielsweise Unterstützung durch soziale Dienste, Familie oder gewählte Vertretung – zu suchen und die Unvermeidlichkeit zu prüfen. Der Clearingbericht bietet den Gerichten eine gute Aufbereitung und Einschätzung, um die Frage der Vertretungsnotwendigkeit zu entscheiden. Am BG Salzburg wurden in den beiden Jahren seit Juli 2018 insgesamt 400 Bestellungsverfahren mit einem Clearingbericht unterstützt, wobei von VertretungsNetz – Erwachsenenvertretung für knapp die Hälfte der Personen Alternativen gefunden wurden und damit die Einstellung empfohlen werden konnte. Da die Erwachsenenvertretung im Unterschied zur alten Sachwalterschaft nun auf drei Jahre befristet ist, wurden am BG Salzburg bereits 225 Erneuerungsverfahren abgeschlossen, bei denen die Abklärung des Vereins neuerlich viele Einstellungsempfehlungen (40 %) ergab.
Noch bestehende Problembereiche
Die quantitative Darstellung der Entwicklung zeigt eine Erfolgsstory: Abnahme der gerichtlichen Erwachsenenvertretungen (und damit ehemaligen Sachwalterschaften) und Zunahme der umgesetzten Alternativen, vor allem der anderen (neuen) Vertretungsmöglichkeiten.
Das größte Problem bei der Reduktion von Vertretungsverhältnissen, die bei strenger Prüfung nicht notwendig wären, sind die fehlenden Alternativen durch Unterstützung. Die Frage, ob eine Person entscheidungsfähig ist, tritt dann in den Hintergrund, wenn die zur Umsetzung der Entscheidung notwendigen Hilfe vorhanden sind. Beispielsweise bei der Führung des Haushaltes und dem selbstbestimmten Leben in der eigenen Wohnung, bei der Unterstützung bei der Begleichung der laufenden Wohnungskosten, die bei fehlendem Angebot eines Betreuten Kontos für Menschen mit eingeschränkter Entscheidungsfähigkeit zu Schulden und Wohnungsverlust führen können. Hier kann schwer gegen die Notwendigkeit einer Vertretung argumentiert werden.
Ähnlich ergeht es bei der noch immer nicht barrierefreien Beantragung von Mindestsicherung, Wohnbeihilfe oder anderen Zuschüssen. Nachgehende Erwachsenensozialarbeit kann in vielen Bereichen gleichwertige und erfolgreiche Unterstützung bieten, wie dies beispielsweise bei Anträgen, bei Vertragsabschlüssen oder der Auftragserteilung für Hilfesystemen eine Erwachsenenvertreterin/ein Erwachsenenvertreter zu leisten im Stande ist. Diese und weitere Beispiele sind in jedem Bundesland, also auch in Salzburg, aufzuspüren.
Die Bestellung einer gerichtlichen Erwachsenenvertreterin/eines Erwachsenenvertreters kann nur erfolgen, wenn dies nach Prüfung möglicher Alternativen unvermeidbar ist. Strenggenommen, müsste so manche Erwachsenenvertretung spätestens im Erneuerungsverfahren beendet werden. Dieser Prozess wird sich noch fortsetzen. Leider konnte keine Art-15a-B-VG-Vereinbarung als zwischenstaatlicher Vertrag zwischen Bund und Länder über die notwendigen Unterstützungsangebote ausgehandelt werden. Daher bleibt die Reform in diesem Bereich noch hinter den Erwartungen zurück.
Gesetzliche Erwachsenenvertretung
Die neue Vertretungsmöglichkeit der gesetzlichen Erwachsenenvertretung war schon im Vorfeld der Beschlussfassung nicht unumstritten. Denn hier gibt es weiterhin nicht das gewünschte Maß an Selbstbestimmung für die vertretene Person, da die nötige gerichtliche Kontrolle in der Praxis weitgehend fehlt. Auch die zeitliche Befristung durch die Verlängerungsmöglichkeit de facto nur eine administrative Hürde für die Vertreterin/den Vertreter, wobei die vertretene Person nicht gehört werden muss. Die Vertretungsbefugnis ist in den überwiegenden Fällen extrem umfangreich, da aus den acht vordefinierten Kategorien von Angelegenheiten sehr oft alle ausgewählt werden und auf eine genaue Prüfung verzichtet wird. Kritischer Stimmen bezeichnen diese umfassende neue Vertretungsform als Sachwalterschaft für alle Angelegenheiten unter neuem Namen. Zu Denken gibt auch die quantitative Erfolgsgeschichte durch die rasant steigenden Registrierungszahlen. Dies relativiert auch die Erfolgsbetrachtung der Reform, denn in Summe übersteigt die Anzahl der gerichtlichen und der gesetzlichen Erwachsenvertretung jene der ehemaligen Sachwalterschaften. Hier muss noch nachgeschärft werden.
Evaluierung und Staatenprüfung
Gleichzeitig mit dem Beschluss des ErwSchG hat der Nationalrat eine Evaluierung dieser umfassenden Reform festgelegt. Einerseits gibt es ein laufendes Monitoring der quantitativen Entwicklung der Vertretungsverhältnisse, andererseits sollte eine umfassende wissenschaftliche Analyse der Umsetzung dem Gesetzgeber Anhaltspunkte für Nachjustierung oder Weiterentwicklung geben.