Rolling back policies

Petra Geschwendtner

Lange Zeit dachte ich, dass wir historische Erklärungsansätze für Obdach- und Wohnungslosigkeit längstens überwunden hatten. Jene Ansätze, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen, sich weit von einem humanistisch aufgeklärten gesellschaftlichen Verständnis abheben und das Narrativ von vorwiegender „Einzelschuld“ sowie Schicksal vor sich hertragen.

Wohl am stärksten kritisiert waren die biologistischen Ansätze, die obdachlose Pesonen als jene mit einem angeborenen Wandertrieb bzw. einer genetischen Disposition zum Unstet sein beschrieben. Die psychiatrisch-neurologischen Ansätze gesellen sich hier dazu, welches die Wohnungslosen als Psychopathen bzw. abnorme Persönlichkeiten einstuften oder aber hirnorganische Schäden zu erkennen glaubten. Der deutsche Arzt Donath hat 1899 den psychiatrischen Begriff der Proriomanie (= Wandertrieb) eingeführt und ihn als inneren zwanghaften Drang beschrieben, umherwandern zu müssen. Dies hatte durchaus einen humanistsichen Charakter, da mit der Diagnose die Forderung der Entkriminalisierung der „Landstreicherei“ verbunden war. Dennoch fanden sich die unsteten Menschen zur Bestrafung im Arbeitshaus ein. Eine Untersuchung von Veith und Schwindt erregte in den 1980er Jahre großes Aufsehen, da sie die Ursache für Wohnungslosigkeit mit hirnorganischen Schäden erklärten, festgestellt durch Leichensektionen von im Freien tot aufgefundenen Personen.

Ende des 19. Jahrhunderts machte sich durch den fanzösischen Soziologen Emile Durkheim die Anomietheorie als gesellschaftlicher Zustand der Regel- und Normlosigkeit breit. Nonkonformes, abweichendes und deviantes Verhalten als Widerspruch zu kulturellen Normen, wohl auch fehlende Anpassungsprozesse an widersprüchliche (institutionelle) Anforderungen werden als Ursachen konstatiert. Nicht weit davon rangieren Etikettierungs- und Stigmatisierungsansätze, die die Auswirkungen von stigmatisierenden Prozessen in Form von gesellschaftlichen Reaktionen und Sanktionen für das Selbstkonzept und auf abweichendes Verhalten analysieren. Armut- und Unterversorgungsansätze sowie jene von benachteiligten Lebenslagen sind der jüngeren Forschung geschuldet. Seit den 1970er Jahren wissen wir jedenfalls um die strukturellen Ursachen von Wohn- und Obdachlosigkeit (bei weiblicher Wohnungslosigkeit dauerte es noch bis in die 1990er Jahre), wenngleich es in medialen, politischen und gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen bis ins 21. Jahrhundert dauerte, bis sich diese Tatsache in den Köpfen festsetzten konnte.

Die Wohnungsfrage ist eine soziale Frage und eine Verteilungsfrage, so viel ist sicher. Die Wohnungskrise entfaltet sich weltweit allerdings vor einem politischen Hintergrund, der durch den Aufstieg populistischer und rechtsextremer Parteien gekennzeichnet ist. Und siehe da, mit ihrem Aufstieg an die Macht ist eine Schwächung des Wohlfahrtsstaates, eine Nichtachtung von Fakten und Daten und ein „Rollback“ von Sozial- und Wohnpolitiken zu verorten. Frauenpolitisch scheint es mir noch viel Schlimmer, tut aber jetzt nichts zur Sache. Na ja, außer dass Frauen durch ökonomische Abhängigkeiten oft in gewaltvollen Zwangspartnerschaften festhängen, somit dem ungesicherten Wohnen ausgeliefert sind. Auch das ungenügende Wohnen in Form von Überbelag, in baulich schlechten Wohnungen etc. ist häufig weiblich (bspw. Ein-Eltern-Haushalte).

Jetzt kommen wir wieder zurück zu alten Erklärungsansätzen, wöchentlich erreichen uns Nachrichten von perfiden Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut und Obdachlosigkeit. Die USA führen das Ranking an Ungeheuerlichkeiten an: schon im April 2025 haben wir dazu berichtet. Nun wird es konkreter, am Rande (Buschgebiet) der Bundeshauptstadt von Utah, in Salt Lake City, stehen 16 Hektar für das Zwangsbehandlungslager von obdachlosen Menschen bereit. Bist du drin, kommst du nicht mehr raus. Kritiker bezeichnen es als Gefängnis. Trump geht es dabei um die „Säuberung der Straßen von gefährlichen psychisch kranken Menschen“. Das Cicero Institute (quasi die Agenda Austria der USA) feiert in einem Gastkommentar mit den Headlines „the failed era of Housing First is over“ das Ende von Housing First und den Beginn der Zwangsinternierung obdachloser Menschen.

Die Ministerpräsidentin von Italien, Giorgia Meloni, will das Angebot am italienischen Wohnungsmarkt durch Schnellverfahren bei Zwangsräumungen erhöhen. Dadurch sollen Kurzzeitvermietungen eingedämmt werden, in dem Vermieter*innen aufgrund der für sie günstigeren Rechtslage wieder auf Langzeitvermietungen umschwenken. Dabei vergessen werden allerdings die so viel höheren Renditen von Kurzzeitmieten (Wohnen ist schon seit 15 Jahren der Finanzialisierung unterlegen) ebenso wie die Flexibilität, jederzeit die Mietkosten, die auch in Italien nur eine Richtung kennen – steil nach oben – dem Markt entsprechend erhöhen zu können. Kein Wunder, dass die italienischen Mieterverbände laut werden, die sie dies als „eine weitere Attacke der Regierung gegen die Grundrechte von Menschen in prekären Wohnverhältnissen“ sehen. Potenziell betroffen seien über eine Million Italienerinnen und Italiener, die in absoluter Armut leben.

Österreich steht unter Spardruck und lassen sich auch bei uns Angriffe auf sozialstaatliche Unterstützungsleistungen feststellen. Die Armutsbekämpfung weicht zunehmend dem Kampf gegen die Armen.

Für mich ist eine Gesellschaft immer nur so gut, wie sie mit ihren schwächsten und ärmsten Mitgliedern umzugehen vermag. Vermutlich schaff ich es deshalb nicht (sicher auch aus Abwehr) mir nur annähernd ein gesellschaftliches Bild vorzustellen, dass auch nur einigermaßen eine Vorstellung oder eine Schärfe zeichnet, die sich bei der o.a. maßgeblichen Politik abzeichnet.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Verwandte Beiträge

Beginne damit, deinen Suchbegriff oben einzugeben und drücke Enter für die Suche. Drücke ESC, um abzubrechen.

Zurück nach oben