Beitrag von Norbert Krammer, VertretungsNetz. Erstmals erschienen im Rundbrief der Sozialplattform Oberösterreich.
Vor eineinhalb Jahren trat nach intensiver Vorbereitung die große Reform des 2. Erwachsenenschutzgesetzes in Kraft. Seit Juli 2018 gibt es somit bei neuen gerichtlichen Vertretungsverhältnissen keine automatische Einschränkung der rechtsgeschäftlichen Handlungsfähigkeit mehr. Also das, was bislang immer als Geschäftsfähigkeit verstanden wurde und ein wesentlicher Grundstein dafür war, dass Sachwalterschaft als Entmündigung verstanden und erlebt wurde, ist nicht länger rechtlicher Standard. Was passierte mit den bis zu 60.000 Sachwalterschaften, die in das neue Recht übergeleitet wurden? Norbert Krammer, VertretungsNetz
Übergangsbestimmungen dämpften abrupte Änderungen: Für das erste Jahr des Geltungszeitraums gab es noch den sogenannten gesetzlichen Genehmigungsvorbehalt, der für „alte“ Vertretungsverhältnisse bei der rechtsgeschäftlichen Handlungsfähigkeit nur formal durch die verpflichtende Wunschermittlung- und -umsetzungspflicht eine Verbesserung brachte, in der Realität aber durch die erforderliche Zustimmung der Vertreterin / des Vertreters weiterhin Abhängigkeiten festigte.
Selbstbestimmung muss ins Zentrum rücken
Der Gesetzgeber formuliert im Erwachsenenschutzgesetz unmissverständlich: Die Bestimmungen des Gesetzes sind auf alle Sachverhalte nach dem Juli 2018 anzuwenden. Einzig definierte Ausnahmen – beispielsweise der erwähnte Genehmigungsvorbehalt oder die Verlängerung von Überprüfungsfristen – orientieren sich noch nach der bisherigen Praxis. Diese deutliche Regelung diente dazu, um eine Verwässerung zu unterbinden. Bei der Umsetzung der weitreichenden Reform war die Justiz bemüht, mögliche Überforderungen bei allen Beteiligten – den vertretenen Personen, den meist ungeschulten Vertreterinnen, den Behörden, Banken und auch den Gerichten in Hinblick auf den zusätzlichen Arbeitsaufwand – zu minimieren. Diese Balance zwischen großer Veränderung und realistischer Umsetzung ist sicher sehr schwierig und birgt die Gefahr in sich, dass manche menschenrechtliche Ziele aus dem Fokus geraten. Der Vorrang der Selbstbestimmung bei gleichzeitiger Betonung des Nachrangs von Stellvertretung wurde als zentrales Element gesetzlich festgelegt. Für die gerichtliche Erwachsenenvertretung bedeutet dies, dass jede/jeder Vertreterin verpflichtet ist, den Wunsch in Vertretungsbereichen zu ermitteln und Äußerungen der vertretenen Person bis zur Grenze der Gefährdung des Wohls zu berücksichtigen. Es geht also nicht mehr darum, welche Wertmaßstäbe die/der Erwachsenenvertreterin anlegt, sondern darum, was die vertretene Person will.
Ehemalige Sachwalterschaften
Seit Jahren waren die fehlende Einbeziehung und das Vorenthalten von Geldauszahlungen immer wieder Gegenstand von – berechtigten – Beschwerden über ehemalige Sachwalterinnen und nun über, meist private, gerichtliche Erwachsenenvertreterinnen, manchmal auch über Anwälte. Es gibt aber eben auch weiterhin jene Vertretungen, bei denen sich noch nichts verändert. Wo das Machtverhältnis noch im Vordergrund steht und die Veränderung im Sinn des Erwachsenenschutzgesetzes – vor allem für die vertretene Person – sehr dringend wird. So wie bei Ivona Mloban (Biographie anonymisiert): Vor rund zehn Jahren wurde vom Bezirksgericht für die jetzt 45-jährige Ivona Mloban im Zuge einer Lebenskrise mit Scheidung und Verlust der ehelichen Mietwohnung ein Sachwalter für die Vertretung vor Gericht und Ämtern, die Einkommensverwaltung und für Rechtsgeschäfte bestellt. Da keine Person als Sachwalter genannt werden konnte, suchte das Gericht eine geeignete und bestellte einen Rechtsanwalt, der zu dieser Aufgabe im Sachwalterrecht noch verpflichtet werden konnte. Viele Probleme konnten geklärt werden. Ivona Mloban arbeitete lange Zeit als Aushilfe, bis sie diesen Job durch zunehmende Krankenstandstage verlor. Seither bezieht sie Reha-Geld. Eine kleine Wohnung konnte sie sich erhalten. Für die beiden Kinder muss von ihr Unterhalt bezahlt werden. Finanziell ist es sehr knapp, denn der Rechtsanwalt verwaltet das Einkommen in seiner Funktion als Sachwalter sehr streng.
Taschengeld statt Selbstbestimmung
Durch das Erwachsenenschutzgesetz hat sich für Ivona Mloban in den letzten eineinhalb Jahren bei den verfügbaren Geldmitteln nichts verändert. Nach Abzug der Fixkosten verbleibt monatlich nur ein Betrag von rund EUR 350,-, der aber nicht zur Gänze ausbezahlt wird! Ivona Mloban erhält monatlich für den Lebensbedarf nur EUR 210,-, der Rest wird angespart. Doch wofür, obwohl Frau Mloban dringend mehr Geld benötigt? Eine zusätzliche jährliche Ausgabe, die ohne Erspartes nicht beglichen werden könnte, ist bekannt: Vom nunmehrigen Erwachsenenvertreter wird jährlich ein Antrag auf Zuerkennung von Aufwandsersatz und Entschädigung in Höhe von EUR 1.100,- gestellt, vom Gericht genehmigt und auch eine Auszahlungsermächtigung erteilt. Der spärliche Monatsbetrag für Ivona Mloban wird noch dazu sehr kleinteilig ausbezahlt. Beinahe täglich muss Frau Mloban zur Anwaltskanzlei, um Kleinstbeträge abzuholen. Natürlich gibt es hier eine lange Vorgeschichte und viele Probleme. Sichtbar wird aber auch die extreme Überforderung aller Beteiligten in schwierigen Situationen, wenn der Erwachsenenvertreter sehr restriktiv nur Tagesbeträge ausbezahlt und keine Eigenverantwortung zugesteht. In dieser Situation nehmen auch der Protest und Beschwerden von Ivona Mloban zu. Warum die unglaublich tragische Geschichte aktuell wahrnehmbar wird? Frau Mloban beschwerte sich bei Gericht, suchte Beratung und stellte schlussendlich mit Unterstützung einen Antrag auf Beendigung. Der Anwalt wollte nun dringend eine Enthebung und das Gericht beauftragte den Erwachsenenschutzverein mit der im Erwachsenenschutzgesetz periodisch vorgesehenen Abklärung, ob die gerichtliche Erwachsenenvertretung aktuell – weiterhin – unvermeidlich ist. Bei diesem sogenannten Clearingprozess werden mögliche Alternativen, die Fragen des Wirkungsbereichs und Vorschläge zu potentiellen Vertreterinnen herausgearbeitet. Für Ivona Mloban keimt durch die Überprüfung der gerichtlichen Vertretung wieder Hoffnung auf. Im Clearingbericht sieht sie die Informationen aus dem Beratungsgespräch nochmals bestätigt. Sie kann darauf hoffen, dass nun der Wirkungsbereich der Vertretung auf das Notwendigste eingeschränkt wird, ihre Wünsche gehört und nach Möglichkeit umgesetzt werden, die Einteilung des Einkommens von ihr bestimmt oder zumindest mitbestimmt wird, da die laufenden Kosten weiterhin abgedeckt werden müssen. Jede Menge Änderung, die schon mit dem Inkrafttreten des Gesetzes angekündigt wurden. Der zuständige Richter des Bezirksgerichts hat Frau Mloban auch bestärkt, dass die nächsten Schritte der Selbstständigkeit mit Unterstützung eines anderen gerichtlichen Erwachsenenvertreters gestartet werden können. Das Gericht begleitet diese Entwicklung aktiver, fordert die Berichte und Begründungen stringent ein und gibt der Entwicklung breiten Raum.
Verwalten des Einkommens: eine Kernfrage für Selbstbestimmung
Gerade bei den vielen von der Sachwalterschaft übergeleiteten Erwachsenenvertretungen wird es in Gesprächen mit vertretenen Menschen sehr intensiv spürbar: das Gefühl der Entmündigung, der durch den Zugriff auf das Geldbörsl entsteht. Nicht mehr über das eigene Geld verfügen zu dürfen, ist schlimm und wirkt sich auf alle Lebensbereiche aus. So wie es beispielsweise Manfred Kopf, 37 Jahre alt (Biographie anonymisiert), erlebt. Er wird seit Jahren in der Verwaltung seines kleinen Einkommens durch einen vom Gericht bestellten Sachwalter, nun gerichtlicher Erwachsenenvertreter unterstützt – oder wie er findet: oft auch bevormundet. Manfred Kopf arbeitet in einem sozialökonomischen Betrieb und muss zum Bestreiten der Lebenshaltungskosten – insbesondere der Miete – auch Mindestsicherung beantragen. Unterhaltsschulden und Raten aus einem nicht gedeckten Kredit machen ihm weiter zu schaffen. Seine Entscheidungsfähigkeit ist in manchen Bereichen auf Grund einer Lernbeeinträchtigung und einer psychischen Erkrankung, die medikamentös sehr gut laufend behandelt wird, eingeschränkt. Mittlerweile hat sich das Leben von Manfred Kopf zunehmend stabilisiert. Verfestigt hat sich darin aber auch das System der Stellvertreter-Entscheidung. Manfred Kopf hatte in den letzten zehn Jahren nur selten Gelegenheit, außerhalb der sehr eng geregelten Bahnen Entscheidungen für seine Entwicklung zu treffen. Alle hatten sich gut eingerichtet. Aber Manfred Kopf war dennoch unzufrieden, manchmal auch wütend. Besonders wenn es um neue – ohnehin bescheidene – Anschaffungen ging. Den neuen Fernseher, den er sich kaufen wollte und der sich sicher mit der Sonderzahlung finanzieren lässt. Aber dazu musste er den Erwachsenenvertreter fragen, ihm manchmal auch Kostenvoranschläge bringen, die Rechnung vorlegen, damit sie bei Gericht in der Abrechnung vorgewiesen werden konnte, und manchmal verlor er auf diesem Weg die Geduld. Was wiederum als Bestätigung der fehlenden Entscheidungsfähigkeit identifiziert wurde.
Lebenssituationsbericht als Motor der Veränderung
Wie jedes Jahr plante der Erwachsenenvertreter von Manfred Kopf seinen jährlichen Bericht an das Bezirksgericht abzustatten. Doch das zugesandte Formblatt hatte sich verändert und forderte mehr und detailliertere Angaben. Veränderungen durch das Erwachsenenschutzgesetz wurden damit offensichtlicher. 24 Rundbrief 1/2020 Erstmals besprach der Erwachsenenvertreter den Bericht – sogar vorab mit Manfred Kopf. Der erste Reflex – dass alles gleichbleiben kann und die Angaben entsprechend lustlos in die Formulare eingetragen werden – blieb unterdrückt. Die Hauptfrage, ob die Stellvertretung in der Form der gerichtlichen Erwachsenenvertretung unvermeidbar ist, rückte noch nicht in den Fokus. Aber die Frage, ob das gesamte Einkommen verwaltet werden muss, blieb offen im Raum stehen. Die engagierte Richterin nahm den Ball auf und lud Manfred Kopf zu Gericht, um die weitere Vertretung zu besprechen. Schnell wurde klar, dass Herr Kopf über viele Kompetenzen verfügt und diese auch täglich einsetzt. Aus der umfangreichen Verwaltung des Geldes durch den Erwachsenenvertreter mit uneingeschränkter Verfügung über das Konto wurde ein neuer, situationsangepasster Plan. Aus einem sehr vorsichtigen und doch fürsorglichen Blickwinkel betrachtet, war die laufende Zahlung der Verbindlichkeiten nicht gesichert. Hier bestand aus Sicht des Gerichts weiterhin die Gefahr der Gefährdung des Wohls, wenn die Miete nicht bezahlt und Obdachlosigkeit befürchtet oder die Raten nicht bedient und Exekutionen samt Kosten erwartet werden mussten. Aber die laufenden Lebenshaltungskosten hat Manfred Kopf schon seit Jahren – und ohne Probleme – bestritten. Trotzdem behielt der Erwachsenenvertreter immer kleine Sparbeträge zurück und auch die Auszahlung erfolgte nicht wie beim Gehalt üblich monatlich, sondern wie bei Kindern wöchentlich. Damit sollte nun Schluss sein, befanden sowohl die Richterin als auch der Vertreter.
Aus der Ankündigung wird Realität
Eigentlich sollte spätestens nach Ende der Übergangsfrist, also ab Juli 2019, die Beschränkung bei Rechtsgeschäften ein Ende haben. Dies ist auch unabhängig vom Wirkungsbereich, mit dem die/der Erwachsenenvertreterin beauftragt ist. Auch die garantierten Informations- und Mitspracherechte müssen umfassend umgesetzt werden, ebenso die Wunschermittlung und -umsetzung. Besonders wichtig: Alltagsgeschäfte bleiben bis auf Ausnahmefälle immer im Entscheidungsbereich der vertretenen Person, auch wenn die Entscheidungsfähigkeit auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer vergleichbaren Beeinträchtigung eingeschränkt ist. Von der/dem Erwachsenenvertreter*in sind die erforderlichen Barmittel für die Alltagsgeschäfte auch proaktiv zur Verfügung zu stellen – natürlich begrenzt durch die realen finanziellen Möglichkeiten. Diese kurze – und noch gar nicht vollständige – Auflistung der Verbesserungen durch das Erwachsenenschutzgesetz steht oftmals im Widerspruch zur Wirklichkeit bei einzelnen Vertretungen. So wie für Manfred Kopf, der nicht darüber informiert war, dass er ein Recht auf die selbstständige Entscheidung über sein Einkommen hat. Die Tätigkeit des Erwachsenenvertreters muss mit ihm abgestimmt werden.
Beispielsweise kann ein Finanzplan als Vereinbarung erstellt werden: Einnahmen auf der einen Seite, die wiederkehrenden Ausgaben auf der anderen. Damit wird auch für Manfred Kopf sichtbar, über welchen Betrag er frei und jeden Monat disponieren kann. Es ist seine Entscheidung, ob er das Geld ausgibt oder anspart. Und damit darf Herrn Kopf der Zugriff auf das Bankkonto nicht verwehrt werden oder es ist eigenes Alltagskonto einzurichten. Auch bei den Finanzen muss das in § 240 ABGB festgelegte Prinzip von Selbstbestimmung trotz Stellvertretung umgesetzt werden. Es ist also immer im Detail darauf zu achten, dass der vertretenen Person möglichst weitreichend Selbstbestimmung zusteht und sie dabei unterstützt wird.
Tausend Schritte der Umsetzung noch notwendig
Die Komplexität der Reform wird immer in der einzelnen Lebensgeschichte, den unterschiedlichen Bedarfen und verschiedenen Ansprüchen sichtbar. Für Menschen mit eingeschränkter Entscheidungsfähigkeit, für die eine Erwachsenenvertretung von Gericht bestellt wurde, dies geprüft wird oder überprüft werden soll, bleibt die Reform oft noch wenig greifbar. Daher ist es so wichtig, die großen Ziele auf konkrete reale Umsetzungen zu reduzieren. Wie es beispielsweise in der Darstellung der Veränderung für Frau Ivana Mloban oder für Herrn Manfred Kopf in Ansätzen sichtbar wird. Unerlässlich bleibt das Bemühen, Alternativen zu suchen, Unterstützungen zu fördern, Vertretungsbereiche auf gegenwärtig unerlässliche Angelegenheiten zu begrenzen und bestimmt zu beschreiben. Im Zweifel sollten entsprechende Anträge bei Gericht eingebracht und fachliche Beratungen aufgesucht werden.