Filmrezension von Peter Linhuber
Ein Weihnachtsfilm über obdachlose Menschen – ein ziemlicher Spagat, zugegebenermaßen. Einerseits darf der Film kein völliger Stimmungskiller sein, andererseits soll die ernste Thematik nicht unter Lametta-Romantik begraben werden. Dieser Herausforderung stellt sich ausgerechnet ein Film aus Japan: Tokyo Godfathers (2003) von Satoshi Kon, berühmt für sein Erstlingswerk Perfect Blue (1997), und Keiko Nobumoto, der sich unter anderem für den Anime-Klassiker Cowboy Bebop verantwortlich zeichnete.
Inspiriert von John Fords Film Three Godfathers (1948) erzählt Tokyo Godfathers die Geschichte von drei obdachlosen Menschen. Gin entspricht am ehesten einem sogenannten jōhatsu, einer Person, die aus Scham spurlos aus ihrem alten Leben verschwindet; in seinem Fall rührt diese Scham von Spielschulden und einer Alkoholerkrankung her. Miyuki ist eine Teenagerin, die ihre Familie nach einem eskalierten Streit mit ihrem Vater verlassen hat. Hana ist eine Transperson, die bereits zuvor am Rand der japanischen Gesellschaft lebte und nach einem Eklat nicht mehr in die Drag-Bar zurückkehren wollte, die ihr zur zweiten Heimat geworden war.
Nach einer Ausspeisung am Heiligabend findet dieses ungleiche Gespann ein ausgesetztes Baby, das Hana auf den Namen Kiyoko tauft („reines“, „heiliges Kind“). Nach kurzem Zögern ist es vor allem Hanas dringender Wunsch nach einem weihnachtlichen Wunder, der die drei Pat:innen antreibt, Kiyoko wieder mit ihrer Familie zu vereinen. Schon bald scheint es, als arbeiteten tatsächlich höhere Mächte auf ein glückliches Ende hin – und obwohl Tokyo Godfathers Kons bodenständigster Film ist, gehört eine ordentliche Portion Surrealismus weiterhin zu seinen Markenzeichen. Schließlich handelt es sich um einen Weihnachtsfilm, und da bleibt Raum für Wunder.
So entspinnt sich eine Odyssee durch das winterliche Tokyo: vom für sein Nachtleben bekannten Shinjuku im Westen der Stadt über den Tokyo Tower bis ins Rotlichtviertel Kinshichō im Osten des alten Edo. Ein gängiges Klischee, hier jedoch wirkungsvoll umgesetzt: Die Stadt selbst kann zu den Protagonist:innen gezählt werden. Passend zu den Figuren werden nicht nur Tokyos Sehenswürdigkeiten inszeniert, sondern auch die engen Gassen sozioökonomisch benachteiligter Viertel, kleine Geschäfte und Imbisse, in denen Bürger:innen einsam ihre Zeit verbringen, sowie behelfsmäßige Hütten, in denen obdachlose Menschen versuchen, die kalten Winternächte zu überstehen.
Tabuthemen werden dabei nicht ausgespart. Ein alter Mann stirbt in der Obdachlosigkeit. Gelangweilte Jugendliche prügeln Gin halbtot und beschimpfen ihn als „Müll“. Hana wird als Transperson nicht ernst genommen und beständig marginalisiert. Wenn Gin von seinem früheren Leben als angeblich erfolgreicher Radrennfahrer erzählt, belügt er damit weniger Hana als vielmehr sich selbst. Kurz: Tokyo Godfathers nimmt die Herausforderungen seiner durchwegs komplexen Figuren ernst und weigert sich, sie zu banalisieren.
Und doch ist da auch der Weihnachtsaspekt. Gerade Hanas beharrlichem Heldinnenmut ist es zu verdanken, dass am Ende eine aufregende Verfolgungsjagd, ein weihnachtliches Wunder und schließlich ein Happy End stehen. Der Film beginnt weihnachtlich mit Stille Nacht und endet beinahe euphorisch mit der Ode an die Freude.
Animationstechnisch – für Kenner:innen von Satoshi Kon und Studio Madhouse eine überflüssige Information – ist Tokyo Godfathers auch zwanzig Jahre nach Erscheinen auf der Höhe der Kunst. Typisch für Satoshi Kon ist der Stil eher realistisch gehalten, nur vereinzelt wird comichaft überzogene Gestik und Mimik als Stilmittel für gesteigerte Emotionalität eingesetzt. Damit sei der Film auch Anime-Skeptiker:innen ans Herz gelegt. Der Soundtrack aus der Feder von Keiichi Suzuki tut sein Übriges, um zur mal melancholischen, mal zutiefst weihnachtlichen Stimmung beizutragen, ebenso die Gesangseinlagen von Hana, etwa „Climb Every Mountain“ aus The Sound of Music.
Ist Tokyo Godfathers eine animierte Dokumentation über Obdachlosigkeit in Japan? Natürlich nicht. Aber es ist eine wundervolle Weihnachtsgeschichte, die ihre Handelnden ernst nimmt, ihren Sorgen und Nöten Raum gibt – und Konflikte letztlich durch das Wunder der Mitmenschlichkeit auflöst.
Neugierig geworden, hier der Trailer.
In diesem Sinne メリークリスマス – schöne Weihnachten all unseren Leser*innen und Abonennt*innen!
