(Beitrag von Peter Linhuber und Heinz Schoibl)
Der schreckliche Unfall eines obdachlosen Mannes am 20.04.2020 sorgte für mediale Aufmerksamkeit. Die Berichterstattung darüber erweist sich als trügerisch und muss kritisch hinterfragt werden. Siehe dazu den Beitrag von Carmen Bayer von der Armutskonferenz. Neben diesen sachlichen und fachlichen Berichtigungen ist es uns jedoch wichtig, einige diskursanalytische Anmerkungen in Bezug auf drei Artikel (von den Salzburger Nachrichten am 21.04.2020, der ORF-Online Homepage am 21.04.2020 sowie der Krone Homepage am 20.04.2020) zur Diskussion zu stellen.
Unsere Anmerkungen beziehen sich lose auf die von Norman Fairclough in Critical Discourse Analysis beschriebenen Leitfragen.
Die Diskursanalyse beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Sprache und Macht. Aktuell wird für diesen Zusammenhang eher der Begriff „Framing“ verwendet, der allerdings nur Aspekte der Diskursanalyse abdeckt. Framing beschreibt, dass eine Nachricht mit gleichem Inhalt bei anderer Formulierung eine andere Wirkung bei Rezipient*innen entfaltet. So kann Einfluss auf sie genommen werden.
Im Folgenden wird nur auf ausgewählte Aspekte eingegangen.
Welche Werte haben Worte und wie werden Partizipant*innen dargestellt?
Der verunglückte Mann wird deutlich am häufigsten als „Obdachloser“ bezeichnet und auch in allen Schlagzeilen prominent als solcher bezeichnet. Das Adjektiv „obdachlos“ wird nominalisiert und damit von einer Eigenschaft unter vielen zum prägenden Merkmal der Person. Wesentlich seltener in von „obdachlosen Menschen“ oder einem „obdachlosen Mann“ die Rede, im Zitat eines Sozialarbeiters findet sich die Formulierung „Menschen ohne ein Dach über dem Kopf“.
Ähnlich verhält es sich mit „die Armen“ (ORF-Artikel), hier wird der ökonomische Status zum Hauptmerkmal einer ganzen Gruppe von Menschen. Damit wird eine Kategorisierung vorgenommen, der/die Einzelne werden ihrer individuellen Eigenschaften beraubt, ihre Lebenslage, ihre Bedürfnisse und Wünsche auf die Tatsache eines ungenügenden Einkommens reduziert.
Im ORF-Artikel fällt auf, dass zudem das Wort „Krise“ gleich im ersten Paragrafen zweimal verwendet wird, wobei es bei der zweiten Anwendung als „CoV-Krise“ spezifiziert wird. Insofern besteht auch eine Verbindung zum Begriff „Coronavirus-Pandemie“ im zweiten Paragrafen. Dies ist von Interesse, da, wie im Artikel festgehalten, ein Zusammenhang zwischen dem Vorfall und der Krise „nicht“ festgestellt werden kann, wobei diese Einschränkung dadurch entschärft und tendenziell außer Kraft gesetzt wird, indem das „nicht“ durch ein ergänzendes „direkt“ negiert wird. Zu lesen ist in diesem Sinne, dass ein Zusammenhang zwischen Todesfall und Corona „nicht direkt“ hergestellt werden kann, indirekt jedoch sehr wohl berechtigt wäre (oder?). Viel spricht jedenfalls dafür, dass es sich dabei um einen konstruierten Zusammenhang handelt, wie auch Carmen Bayer im oben zitierten Artikel feststellt.
Wie werden Modalverben eingesetzt?
Im ORF-Artikel ist davon die Rede, dass niemand unter freiem Himmel schlafen „muss“; in den Salzburger Nachrichten bittet man Menschen, „sich helfen zu lassen“ bzw. wird von Menschen gesprochen, die sich „nicht helfen lassen“.
Darin wird ein bestimmtes Problembewusstsein sichtbar, das in der Feststellung gipfelt, dass keine Notwendigkeit besteht, im Freien zu schlafen, dass dies somit eine gewisse Freiwilligkeit vermuten lässt. Dies wird textlich durch das Modalverb „muss“ (nicht notwendig) und die Formulierung „sich helfen lassen“ – als „erlauben“ – suggeriert.
Ein ähnliches Problemverständnis offenbart auch die Sequenz, in der man Menschen bittet, „sich helfen zu lassen“. Politik, Verwaltung und Sozialarbeit werden gewissermaßen exculpiert, es liegt nicht in ihrer Verantwortung, dass „diese Menschen“ sich nicht helfen lassen. Die Verantwortung liegt somit bei dem Menschen in der Not, die reale Möglichkeit, Hilfe in Anspruch zu nehmen, wird vorausgesetzt, sofern denn die „freiwillige“ Motivation dazu gegeben wäre.
Es ist aus sozialarbeiterischer Sicht prinzipiell zu befürworten, wenn Menschen Autonomie und Verantwortung zugesprochen werden. Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Ablehnung konkreter Hilfen letztlich viele Ursachen haben kann, allem voran ist hier auf ein gesellschaftlich beschränktes Hilfsangebot zu verweisen, wonach es schlicht nicht die Möglichkeit gibt zu wählen, sich für eine bestimmte oder eben eine andere Art der Hilfe zu entscheiden. Die Ablehnung einer bestimmten Form der Hilfe bedeutet nicht die Ablehnung von Hilfe allgemein; insbesondere psychisch erkrankte Menschen können gewisse Formen der Unterstützung eventuell (derzeit) nicht annehmen. Vielleicht ist eine lange Begleitung durch Sozialarbeiter*innen notwendig, vielleicht müssen sogar neue Formen der Unterstützung geschaffen werden. Der Grundsatz, Menschen in Notlagen darüber entscheiden zu lassen, welche Art von Hilfe sie in Anspruch nehmen wollen, ein Rechtsanspruch, die Art und Intensität von Hilfe mitgestalten zu dürfen, Partizipation von Hilfebedürftigen als Grundlage für das Hilfeangebot zu gewährleisten, sind als Prämissen für ein Hilfesystem, das sich der Autonomie der Betroffenen verpflichtet, unerlässlich.
Zu beachten ist schließlich auch, dass durch solche Formulierungen, nicht nur bei einem Laienpublikum, romantisierte Bilder „freiwilliger Obdachlosigkeit“ oder neoliberale Narrative alá „Jeder ist seines eigenes Glückes Schmied“ aktiviert werden. Unseres Erachtens benötigt es eine ausreichende Differenzierung von Sachverhalten und ideologisch verbrämten Deutungsmustern, die durchaus im Konflikt mit dem Auftrag von Journalist*innen stehen kann, z.B. was die Textlänge betrifft.
Die Macht der Autor*innen: Über was wird überhaupt gesprochen?
Im ORF-Artikel wird gleich zu Beginn ein Hintergrund formuliert, jener der CoV-Krise. Dieser Zusammenhang ist, wie bereits dargelegt wurde, allerdings nur konstruiert und stellt eine fachlich nicht nachvollziehbare Verknüpfung zu aktuellen Ereignissen her. Weitere Informationen zum Hintergrund finden sich in diesem Artikel nicht. In den anderen Texten spielt ein wie auch immer gearteter Hintergrund ebenfalls keine Rolle, weshalb ich mich im Folgenden nur auf den ORF-Artikel beschränke.
Im zweiten Teil des ORF-Artikels wird der Vorfall an sich beschrieben. Der dritte und letzte Teil des ORF-Textes beschäftigt sich mit den Maßnahmen gegen Obdachlosigkeit und bietet allgemeine Informationen über sozialarbeiterische Hilfen. Zu diesem Zweck wurde auch ein Expertinnen-Interview geführt. Bei der Auflistung der angebotenen Maßnahmen scheinen jeweils die bereits unter Modalverben problematisierten Formulierungen auf, die nahelegen, dass ausreichend Hilfe vorhanden wäre, sofern die Personen die gegebenen Hilfen annehmen. Erstaunlich ist in diesem Fall, dass der Vorfall sich in einer Gemeinde im Flachgau und eben nicht im engeren Stadtgebiet ereignet hat, dass jedoch die nachgefragten Hilfen ausschließlich in der Stadt Salzburg lokalisiert sind. Was das eine also mit dem anderen zu tun hat, wird keiner Überlegung gewürdigt.
Das Vorgehen in den Salzburger Nachrichten ist ähnlich. Im Artikel der Salzburger Nachrichten wird abschließend noch auf einen anderen Fall verwiesen, auf den eines 50-jährigen ukrainischen Mannes, der in einer Gartenhütte schlief und dabei zu Tode kam. Es wird nur der Vorfall an sich beschrieben, kein Hintergrund oder weitere Informationen.
Schlussfolgerungen
In den Artikeln werden Menschen durch ihre Obdachlosigkeit oder Armut definiert, auf verbindende Elemente mit anderen Gruppen wird nicht eingegangen, wodurch es zu einer gewissen Distanzierung kommt, auch wenn ein „wir“ und „sie“ nicht explizit ausformuliert wird.
Hintergründe, wie es zu Obdachlosigkeit kommt, werden in den Berichten ebensowenig beleuchtet, wie auch die Anforderungen an fachliche Hilfe unerwähnt bleiben, einzig wird einmal versucht, eine nicht existente Verbindung zur CoV-Krise zu konstruieren, die derzeit alle Schlagzeilen beherrscht. Strukturelle Ursachen spielen in keinem der untersuchten Artikel eine Rolle, Komplexität wird reduziert.
Durch den Einsatz der Modalverben entsteht der falsche Eindruck einer Entscheidungsfreiheit oder gar einer Freiwilligkeit der Obdachlosigkeit, was aus fachlicher Sicht unzutreffend ist.
Die mediale Berichterstattung hat aus sozialarbeiterischer Perspektive
Potential zur Verbesserung. Insofern ist es Aufgabe des Forum
Wohnungslosenhilfe, kritisch vorherrschende Formulierungen und Narrative zu
hinterfragen und bessere Alternativen zu ergründen, um in Zukunft dabei zu
helfen, die Berichterstattung über obdachlose Menschen zu verbessern.
[1] Frames sind „Deutungsrahmen“, „Sinnhorizonte“. Sie helfen, Informationen zu verstehen und einzuordnen. Die Wahl des richtigen Frames ist entscheidend. Das heißt, hinter Wörtern steckt mehr als man anfangs vermutet. Alles, was wir uns an Wissen angeeignet haben, wird zu einer Idee, die wir beim Lesen eines Wortes abrufen. Frames werden umso mächtiger, je häufiger sie wiederholt werden und Verwendung finden. „Flüchtlingswelle“ wurde medial tausendfach wiederholt, die Folgen davon waren beträchtlich, da der Frame entscheidet, wie eine Informationen interpretiert wird, nicht die Information an sich!