Salzburger Wohnungslosenhilfe blickt auf 40 Jahre zurück!

Beitrag von Heinz Schoibl

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(Un-)Rechts-Pingpong als Geburtshelfer*in

Vorgeschichte:
Der Justizminister Christian Broda hat in seiner großen Strafrechtsreform (1975) den Straftatbestand der Vagabundage[1] ersatzlos gestrichen. Die Salzburger Landesregierung beantwortete entsprechende Klagen, der Polizei würden damit rechtliche Handhaben gegen Obdachlosigkeit entzogen, bereits im Jahr 1977 mit einer Sicherheitsenquete. In diesem Rahmen wurde eine regionale Sicherheitsbedrohung festgestellt und mit den Stimmen aller im Landtag vertretenen Parteien ein „Vagabundage-Paragraf“ in das Polizeistrafgesetz (§ 3a) eingefügt. Obdach- / Wohnungslosigkeit wurden so erneut zum strafwürdigen Delikt erklärt. „§3a: Wer sich erwerbs- und beschäftigungslos umhertreibt und nicht nachzuweisen vermag, dass er die Mittel zu seinem Unterhalt besitzt oder redlich zu erwerben sucht, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit Arrest bis zu zwei Wochen zu bestrafen.“

Dieses Gesetz trat 1978 in Kraft und wird von Sozialarbeiter*innen, Student*innen und andere vehement kritisiert. Analog zur Kampagne „Therapie statt Strafe“ weisen sie darauf hin, dass Armut, Ausgrenzung und Wohnungslosigkeit als soziale Problemlagen verstanden und mit sozialarbeiterischen Mitteln bearbeitet werden müssen. Polizeiliche sowie polizeirichterliche Ordnungsmaßnahmen stellen ihrer Ansicht nach keine Lösung für Armut und Armutsfolgen dar. Flugblattaktionen, Petition, Protestveranstaltungen und Demonstrationen in den Jahren 1978 und 1979 führen zum Zugeständnis der Salzburger Landesregierung, den „Verein Treffpunkt“ mit der Umsetzung fachlicher Hilfen zur Bewältigung und Bekämpfung von Wohnungslosigkeit zu beauftragen.

Strukturelle Benachteiligung

Am 11.11.1979 wird die erste Beratungsstelle für Menschen in Armut, Ausgrenzung und Wohnungslosigkeit eröffnet. Innerhalb weniger Tage ist dieses Beratungsangebot gut bekannt und in der Folge in stetig zunehmendem Ausmaß genützt. Bald schon müssen wir Neulinge im Feld der sozialen Arbeit feststellen, dass Beratung alleine keineswegs ausreicht, zur Bewältigung der akuten Notlage beizutragen. Gilt es doch, nicht nur auf der individuellen Ebene anstehende Problemlagen zu bearbeiten, sondern allem voran die strukturellen Hürden zu beseitigen, die der Problembewältigung entgegen stehen. Allem voran sind hier Probleme mit der örtlichen Sozialadministration hervorzuheben. Im Vollzug der Sozialhilfe werden die Vorurteile in der öffentlichen Meinung schlicht reproduziert, wonach Obdachlosigkeit / Nichtsesshaftigkeit zum einen selbstverschuldet wenn nicht gar opportunistisches Kalkül sei, um so bei der Vergabe einer Gemeindewohnung bevorzugt zu werden. Zum anderen geistert das Vorurteil durch die Köpfe, dass Obdachlosigkeit als romantische und selbstgewählte Alternative zu einem „ordentlichen Leben“ in Arbeit und regulärer Wohnversorgung  zu verstehen sei und die Betroffenen gar nicht bereit wären, sich helfen zu lassen.

Paternalismus, Bevormundung und verordnete Sparsamkeit

In der Hoffnung, dass obdachlose Menschen baldmöglichst wieder aus Salzburg wegziehen, wird der Sparstift angesetzt und eine nachhaltige Hilfe zur Bewältigung von Obdach- / Wohnungslosigkeit verweigert oder zumindest höchst unattraktiv gemacht.

Das Sozialamt der Stadt Salzburg stuft obdachlose Menschen als unstet, alkoholkrank, wohnunfähig und / oder unglaubwürdig ein und gewährt im Regelfall eine erheblich reduzierte Unterstützung, die deutlich unter den gesetzlich festgelegten Vorgaben und Regelsätzen liegt.

  • Rechtswidrige Administration: Hilfeleistungen an Obdachlose werden nicht per Bescheid zugesprochen.
  • Kein Recht auf Mitwirkung: Bezüglich der gewährten Unterstützung ist kein Rechtsmittel in Hinblick auf Art und Höhe der gewährten Hilfe möglich.
  • Sachleistung: Nur zu oft wird die Auszahlung von Bargeld mit der Begründung verweigert, dieses Geld würde nur vertrunken. Einkaufsgutscheine, die in ausgewählten Märkten für ein eingeschränktes Waren-Sortiment eingelöst werden können, sollen Missbrauch verhindern.
  • Wiederholte Vorsprache: Hilfesuchende müssen wöchentlich vorsprechen, um einen neuerlichen Gutschein abzuholen.
  • Resümee: Das Sozialamt meint es gut mit armen obdachlosen Menschen und sorgt dafür, dass diese auch noch in der letzten Woche des Monats was zum Essen haben!

Stigmatisierung und Pathologisierung

Mit der Zuschreibung von „Wohnunfähigkeit“ wird obdachlosen Menschen der Zugang zu einer eigenständigen Wohnversorgung verweigert. Diese werden auf Nächtigungsplätze im städtischen Asyl oder in einer privaten Herberge verwiesen. Für Amt und kommunale Sozialpolitik ist unerheblich, dass damit anstelle einer regulären Wohnversorgung lediglich die Nächtigung in Mehrbettzimmern bzw. Schlafsälen möglich ist, dass in diesen Asylen somit weder Wohnsicherheit noch Privatsphäre gewährleistet wird. Zur Not kann zwar gekocht werden, ohne dass jedoch entsprechende hygienische Vorsorgen für die Zubereitung von Lebensmitteln, für die Reinigung des Geschirrs oder für die Entlüftung der Räumlichkeiten realisiert sind.

Substandard, Pönalisierung und Armutsverfestigung

Die traditionelle Form des Umgangs mit extremer sichtbarer Armut / sprich: Obdachlosigkeit lässt sich in der spezifisch Salzburger Variante mit folgenden Eckpfeilern charakterisieren:

  • Kontrolle und Bestrafung: Diverse Hotspots in Salzburg, z.B. Hauptbahnhof, werden regelmäßig von Polizeistreifen observiert, obdachlose Menschen werden in der Folge perlustriert und, sofern sie keinen regulären Wohnsitz und adäquaten Lebensunterhalt nachweisen können, mit Organmandaten belegt.
  • Vertreibung: In Ergänzung zu den polizeilichen Kontrollen und Aktivitäten setzt die ÖBB eigenes Personal ein, um auch abgelegene Örtlichkeiten, wie abgestellte Waggons, Schuppen und Verschläge, zu durchsuchen und den angetroffenen Personen den Aufenthalt zu untersagen. Bevorzugt in der kalten Jahreszeit werden schlafend angetroffene Obdachlose angezeigt, fallweise auch mit Wasser begossen, in jedem Fall vertrieben.
  • Schikane: Vereinzelt kommt es zu schikanösen Aktionen, die etwa in der polizeilichen Deportation von Obdachlosen auf die Mülldeponie in Siggerwiesen oder deren Aussetzung an abgelegenen Örtlichkeiten (z.B. Gaisberg) gipfeln.
  • Substandard: Die für Obdachlose bereitgestellten Unterkünfte (städtisches Asyl und private Herberge) begnügen sich mit Stockbetten in Schlafsälen und verweigern weitere räumliche oder sanitäre Annehmlichkeiten. Private Güter können in Kästen oder Spinden aufbewahrt werden. In Ermangelung einer adäquaten Schließanlage ist diese Vorsorge einem Angebot zum gegenseitigen Beklauen gleichzusetzen.
  • Heimatrecht: Besonders heikel gestaltet sich die Situation für jene Hilfebedürftigen, die, z.B. nach verbüßter Haftstrafe, erst kürzlich nach Salzburg gekommen sind. Zwar sieht die Sozialhilfe eine Refundierung von Hilfeleistungen durch die Herkunftsgemeinde vor, öfter noch aber wird schlicht die Heimreise empfohlen und anstelle einer längerfristigen Hilfestellung eine Fahrkarte ausgehändigt.
  • Bevormundung und Unterwerfung: Die Bettgeher*innen sind in den Notunterkünften (Asyl und Herberge) mit ausgeprägten Kapo-Strukturen konfrontiert. „Langgediente“ Bewohner*innen der Herbergen (manche leben bereits über Jahrzehnte im „Notbehelf“) führen ein Regime, in dem Wohlverhalten und Unterwürfigkeit honoriert, Eigen- sowie Widerständigkeit jedoch unterdrückt werden. Der informellen Diskriminierung ist Tür und Tor geöffnet.
  • Aufenthaltsverweigerung: Die Sozialadministration setzt durchgängig auf Verwaltung von Armut und begnügt sich mit der Linderung der ärgsten Notlagen. An Hilfe zur Bewältigung von Armut und Armutsfolgen wird nicht gedacht. Dementsprechend sind auch keinerlei Vorsorgen für ein Entlassungsmanagement aus Asyl und Herberge getroffen, eine reguläre Wohnversorgung findet bestenfalls unsystematisch und in der Regel ohne begleitende Betreuung und Rückfallprävention statt. 
  • Sozialdisziplinierung und Arbeitszwang: Die Praxis des Sozialamtes unterscheidet strikt zwischen den „unschuldig“ Armen (am liebsten sind den Sachbearbeiter*innen die kleinen Kinder, die ja wirklich nichts dafür können) einerseits und den anderen Armen andererseits, bei denen zumindest Selbstverschulden vermutet werden kann bzw. ihre Bereitschaft, an der Bewältigung von Armut und Armutsfolgen aktiv mitzuwirken, bezweifelt werden kann. In diesem Sinne gilt es nicht als Auftrag des Amtes, die konkrete Bedarfslage der Hilfesuchenden zu erheben und amtswegig zur Abdeckung der aktuellen Bedürfnisse beizutragen. Im Sinne klassischer Beweislastumkehr obliegt es den Hilfesuchenden, ihre aktuelle Notlage zu belegen, ihren Willen zur Bewältigung der Notlage zu bekunden und z.B. durch aktive Arbeitsplatzsuche zu belegen. In Umkehrung der vorliegenden Rahmenbedingungen wird arbeitslosen Obdachlosen der Hinweis, dass es aufgrund einer fehlenden adäquaten Unterkunft unmöglich wäre, eine reguläre Erwerbsarbeit aufzunehmen, als Ausdruck von Arbeitsunwilligkeit ausgelegt. Noch radikaler mutet die Begründung für eine negative Sozialhilfeentscheidung an, wonach gemäß der amtsbekannten Verwertung des Inhalts von Mülltonnen der Betroffene durchaus fähig wäre, seinen Lebensunterhalt aus eigenem Unternehmen zu sichern.

Bilder des Elends

Am Anfang der Wohnungslosenhilfe steht mithin eine Tradition aus Heimatrecht und Verwaltung von Armut, die in Benachteiligung, Substandard und Verwahrlosung mündet. Dementsprechend ist nicht nur das Bild, das sich die Öffentlichkeit von Armut, Ausgrenzung und Wohnungslosigkeit macht, höchst defizitär und von der Normalität abweichend. Die Bilder der sichtbaren Armut sind nicht zuletzt ein Spiegelbild für Ignoranz und Pejorisierung. Portraits der von Armut, Ausgrenzung und Wohnungslosigkeit betroffenen obdachlosen Personen sind quasi der Spiegel für die strukturelle Gewalt, der sie im öffentlichen Leben begegnen. Einen Eindruck von dieser Wechselwirkung vermittelt der Bildband, den der „Verein Treffpunkt“ 1987 auflegt

Paradigmenwechsel zu einem rechtebasierten Hilfesetting

In den ersten Jahren nach der formellen Eröffnung der Beratungsstelle für Wohnungslose ist der „Verein Treffpunkt“ maßgeblich damit beschäftigt, strukturelle Facetten von Benachteiligung, Diskriminierung und sozialem Ausschluss zu bekämpfen, alternative Wege zur Bewältigung von Wohnungslosigkeit zu entwickeln und die öffentliche sowie veröffentlichte Meinung vorurteilsfreier zu gestalten. Im Einzelnen möchte ich folgende Eckpfeiler auf dem Weg zu einer rechtebasierten Bekämpfung von Wohnungslosigkeit hervorheben (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):

  • Mit Recht gegen Willkür, Hilfeverweigerung und Vertreibung: Mit Erstaunen stellen wir fest, dass wir von den Mitarbeiter*innen der Sozialadministration Salzburgs wie Bittsteller*innen behandelt werden, und fragen uns, warum die im Sozialhilfegesetz grundgelegten Standards in der konkreten Bedarfslage obdachloser Menschen keinen Bestand haben. Nachdem unsere Appelle auf rechtskonformen Vollzug der Sozialhilfe wenig bis nichts nützen, greifen wir zum Instrument der Beschwerde und erzwingen so die Ausstellung von Bescheiden. Damit sind in der Folge Rechtsmittel wegen willkürlicher Unterschreitung der Richtsätze möglich, worauf nun die Oberbehörde Land einschreiten muss. Zwar droht uns der Vizebürgermeister der Stadt Salzburg mit der Streichung unserer Subvention, die klärende Intervention des Landes sorgt für Rechtssicherheit, wonach a) in jedem Fall ein Bescheid auszustellen wäre und b) eine Unterschreitung des Richtsatzes eine entsprechende fachliche Begründung benötigt.
  • Wohnungslosenhilfe ist (auch) Vermittlung in eine (eigene) Wohnung: Ein erster Lokalaugenschein macht überdeutlich, dass die Notunterbringung von obdachlosen Personen im städtischen Asyl in der Linzergasse oder in der Herberge Gabauer höchst bedenklich und mit Blick auf eine Bewältigung der Wohnungslosigkeit tendenziell kontraproduktiv ist. In einer konzertierten Aktion führen wir a) eine öffentliche Begehung des städtischen Asyls unter Beiziehung von Pressevertreter*innen durch und legen b) gegen die zwangsweise Zuweisung einer obdachlosen Jungfamilie in die Herberge Gabauer (bei getrennter Unterbringung in geschlechtshomogen belegten Schlafsälen)  Berufung ein. Der öffentliche Protest gegen das Substandard Asyl führt zur Beauftragung, ein Konzept für die Neugestaltung einer professionellen Notschlafstelle mit adäquatem Entlassungsmanagement zu entwickeln. Die Berufung gegen die zwangsweise und getrennte Notunterbringung in der Herberge geht letztlich bis zum VWGH, der grobe Menschenrechtsverletzungen feststellt und den ablehnenden Bescheid des Sozialamtes, in dem sich dieses gegen eine reguläre Wohnversorgung ausgesprochen hat, ablehnt. Das Sozialamt wird zur nachträglichen Übernahme der inzwischen angelaufenen Kosten für die Wohnversorgung verpflichtet.
  • Wohnungslosenhilfe ist Hilfe gegen Ungleichbehandlung im Rechtswesen: Die ersten Strafverfahren, denen wir beiwohnen dürfen, verdeutlichen den Unrechtscharakter der Klassenjustiz. Zwar haben auch Obdachlose Zugang zu kostenloser Verfahrenshilfe, machen jedoch nur zu oft die Erfahrung, dass sie in der Kanzlei ihrer Anwält*innen gar nicht gern gesehen werden. Fallweise kommt es auch erst ein paar Minuten vor Beginn der Verhandlung zum ersten Treffen mit ihre*r Verfahrenshelfer*in. Entsprechend unprofessionell bis wirkungslos fällt dann diese Rechtshilfe aus. In Absprache mit der Initiative „radikale Jurist’innen“ richten wir in der Folge einen Rechtshilfefonds[2] ein, der aus privaten Spenden gefüllt wird. Mit diesem Fonds bestreiten wir in der Folge Verfahren gegen Strafmandate wegen Vagabundage – bis vor den VWGH – und unterstützen die engagierte Rechtshilfe für obdachlose Personen auch in aufwändigeren Prozessen.
  • Wohnungslosenhilfe ist proaktive Einmischung in kommunale / regionale Wohnpolitik: Obdach- / Wohnungslosigkeit ist allem voran durch das Fehlen einer leistbaren und dauerhaften Wohnversorgung gekennzeichnet. Von Beginn der Tätigkeit des „Vereins Treffpunkt“ liegt unser Bemühen darin, verfügbaren Wohnraum zu akquirieren und den obdachlosen Klient*innen Wohnversorgung anzubieten. In Ermangelung regulärer Wohnangebote greifen wir anfangs auf die Strategie der prekaristischen Nutzung von Leerstand zurück, führen einzelne Übergangswohnheime und bemühen uns um die Etablierung von betreutem Wohnen – z.T. allerdings im baulichen Substandard. Nur langsam sickert bei uns die Erkenntnis durch, dass Wohnbetreuung im prekaristischen Übergang bestenfalls eine höchst prekäre Stabilisierung bedeutet, dass es vielmehr notwendig ist, so rasch als möglich eine reguläre Wohnversorgung bewerkstelligen zu können. Die entsprechenden Verhandlungen mit Wohnungsamt sowie gemeinnützigen Bauträgern münden über Jahre hinweg leider allemal in die Idee, betreute Übergangswohnheime bereitzustellen und durch aufsuchende Wohnbetreuung zur Wiederherstellung von Wohnfähigkeit beizutragen. Als Zwischenschritt zu einer Bewältigung von Wohnungslosigkeit durch die Bereitstellung leistbarer Wohnungen in eigenständiger wohnrechtlicher Absicherung startet der „Verein Treffpunkt“ damit, Wohnungen am privaten Wohnungsmarkt anzumieten und in Untermiete an Klient*innen weiterzugeben, was letztlich dazu führt, dass dem Verein nun Verwaltungs- und Betreuungsagenden zukommen, die nur zu oft zu dubiosen Rollenkonflikten führen. In ersten Ansätzen startet der „Verein Treffpunkt“ mithin Ansätze der ambulanten Wohnbetreuung in eingestreuten Wohnungen, wie sie Jahre später unter dem modischen Titel „housing first“, d.h. der freiwilligen Wohnbetreuung in eigenständigen Mietverhältnissen zur Innovation kommunaler / regionaler Wohnungslosenhilfe werden.
  • Wohnungslosenhilfe ist (auch) Hilfe zur Erwerbsarbeit: Als Wohnungslosen­helfer*innen sind wir von Anfang an mit der Tatsache konfrontiert, dass Obdach- / Wohnungslosigkeit eng mit unzureichender bis völlig fehlender Erwerbsbeteiligung verknüpft ist. Das zeigt sich beispielsweise darin, dass viele Obdachlose vor Eintritt der Obdach- / Wohnungslosigkeit in saisonalen Berufszweigen (Bauwirtschaft, Tourismus etc.) beschäftigt sind und mit Ende der Beschäftigung auch ihr Firmenquartier verlieren. Ihre Erwerbsbiografie weist eine typische Pendelbewegung mit häufigen Phasen der Erwerbslosigkeit auf und hat zudem zu einem tiefgreifenden Verlust von Beheimatung sowie einer Erosion sozialer Netzwerke geführt. Langzeitarbeitslosigkeit und prekäre Einkommenssituation, kombiniert mit unzureichenden Zugangsmöglichkeiten zu leistbarer adäquater Wohnversorgung münden in verfestigte bis chronifizierte Obdach- / Wohnungslosigkeit. Unsere Antwort auf diese Mangelfeststellung liegt in der Schaffung eines Beschäftigungsprojektes, das einfache Dienstleistungen wie Entrümpeln, Übersiedeln sowie kleinere Reparaturen (von Textil bis Holz) einschließt und die Reintegration von langzeitarbeitslosen Personen ins Erwerbsleben durch betreute / begleitete Erwerbsarbeit unterstützt.
  • Wohnungslosenhilfe ist vernetzte Hilfe: Von Anfang an steht für die Mitarbeiter*innen des Treffpunkt fest, dass Wohnungslosenhilfe nicht vom mehr / minder kleinen Beratungslokal aus erledigt werden kann, dass es dafür hingegen einer umfassenden Abstimmung mit benachbarten Segmenten des Hilfesystems bedarf. In den dafür eingerichteten Vernetzungsgremien sind Einrichtungen der Haftentlassenen- und Bewährungshilfe, der Drogenarbeit und der Suchthilfe, der Sozialpsychiatrie und Erwachsenen-/Senior*innenhilfe etc. vertreten und engagieren sich gemeinsam, z.B. im SPAK Salzburg, um die akkordierte Weiterentwicklung von Qualität und Standards – unter den Vorzeichen vernetzter Hilfe, die eben nicht Entmündigung meint sondern auf Ermächtigung abzielt. In den Folgejahren werden lokale Netzwerke (z.B. Sozialberater*innen-Team) und bundesweite Dachverbände der Sozialprojekte sowie der Wohnungslosenhilfe (www.bawo.at) gegründet – unter aktiver Mitwirkung vom „Verein Treffpunkt“.

Sozialstaat Österreich – Gut aufgestellt? Oder bereits wieder in Gefahr?

Seit den frühen 1980er Jahren ist aus den zarten Pflänzchen vereinzelter Sozialprojekte ein gut aufgesetzter Sozialstaat herangewachsen, dessen Leistungen zwar nach wie vor mit Fokus auf die Städte konzentriert sind, in vielen Facetten jedoch bis in abgelegene Talschaften reicht. Damit sind wichtige Anforderungen an eine gemeinwohlorientierte Politik eingelöst, welche Inklusion und soziale Sicherheit zumindest anstrebt. Nach wie vor ist jedoch für den Aufgabenbereich der Wohnungslosenhilfe großer Nachholbedarf festzustellen:

  • in Hinblick auf flächendeckende Vorsorgen für die Prävention von Wohnungslosigkeit
  • mit dem Ziel einer nachhaltigen und nachgehenden Bekämpfung von Wohnungslosigkeit durch die Bereitstellung leistbarer, dauerhafter und inklusiver Wohnversorgung
  • gemäß dem Imperativ einer effektiven Beendigung des gesellschaftlichen Skandals von Obdach- / Wohnungslosigkeit.

Mit Blick auf aktuelle Trends und Tendenzen ist zudem vor einer Retro-Bewegung weg von Solidarität, sozialer Sicherheit und bedarfsorientierter Ausgestaltung des Hilfesystems zu warnen. So nimmt etwa die Reform der Bedarfsorientierten Mindestsicherung Abschied von einer konsequenten Armutsbekämpfung, so führt die durchgepeitschte Reform der Gemeinnützigkeit zu einem Ausverkauf des Bestands leistbarer Mietwohnungen, so zeigt sich im Umgang mit obdachlosen Notreisenden ein Rückfall in Zeiten strafender, vertreibender und diskriminierender Law & Order Politik (z.B. Bettelverbot, Bestrafung von illegalem Kampieren).

Leider immer noch Realität auf dem Salzburger Wohnungs-„markt“



[1]        Der Vagabundage-Paragraf stammte aus dem Jahr 1885 und sah als Strafe für „Landstreicherei und Betteln“ im Wiederholungsfall die Einweisung in eine Zwangsarbeits- oder Besserungsanstalt (z.B. Suben) vor.


[2]     Siehe dazu: Heinz Schoibl, Rollenzuschreibungen und Erwartungen an Juristen aus der Sicht der Randgruppenarbeit; in: Nikolaus Dimmel / Alfred Noll (Hg. 1991), Das Juristenbuch

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